Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

126 Das deutsche Reih und seine einzelnen Glieder. (Okt. 22.—27.) 
22. Oktober. (Stuttgart.) Eröffnung der Ständever— 
sammlung durch den König mit folgender Thronrede: 
„Nach 27jähriger segensreicher Regierung ist Mein vielgeliebter Herr 
Oheim, des Königs Karl Majestät, von Mir und dem dankbaren Volke tief 
betrauert, aus dem Leben geschieden. Zur Nachfolge in der Regierung be— 
rufen, trete Ich in die Mitte Meiner getreuen Stände und entbiete Ihnen 
Meinen Königlichen Gruß. Ich habe bereits ausgesprochen, wie Ich darauf 
zähle, daß Mein geliebtes Volk Mir in Liebe und Vertrauen entgegenkommt. 
Auch bei den Ständen des Landes hoffe Ich zuversichtlich auf eine verständ- 
nisvolle Unterstützung für ein ersprießliches Wirken zum Wohle des Ganzen. 
Wenn Ich die Lage des gesamten Vaterlandes zu der Zeit, in welcher der 
verewigte König die Zügel der Regierung ergriff, mit den jetzigen Verhält- 
nissen vergleiche, so bin Ich glücklich, indem Ich heute an dieser Stelle vor 
allem der festgefügten machtvollen Einigung gedenke, welche dem deutschen 
Volke als Frucht eines langen schweren Ringens in dem erstandenen Deut- 
schen Reiche für alle Zeiten gewonnen ist. Die in der Zugehörigkeit zu 
demselben begründeten Pflichten in unwandelbarer Treue zu erfüllen, soll 
Mir ein hohes Anliegen sein. Innerhalb des engeren Vaterlandes wird die 
Pflege eines stetigen und besonnenen Fortschritts auf allen Gebieten des 
staatlichen Lebens Gegenstand Meiner unausgesetzten Bemühungen bilden. 
Noch hat die Frage einer zeitgemäßen Revision der Landesverfassung, ins- 
besondere in Absicht auf die Zusammensetzung der Ständeversammlung, eine 
Lösung nicht gefunden. Meine Regierung wird den Versuch einer Verstän- 
digung erneuern, und Ich hege die Hoffnung, daß es bei Beratung der zu 
erwartenden Vorlage gelinge, in patriotischem Zusammenwirken das schwie- 
rige Werk einem glücklichen Abschluß entgegenführen. Die Pflege der Re- 
ligion und die Fürsorge für das geistige und sittliche Wohl des Volkes 
werde Ich als heilige Obliegenheit betrachten. Die Sicherung und Hebung 
der volkswirtschaftlichen Interessen auch durch Weiterentwickelung der Ver- 
kehrsmittel und durch die gleichmäßige Förderung von Gewerbe und Land- 
wirtschaft wird die besondere Sorge Meiner Regierung sein; namentlich ist 
auch die Fortbildung der Kulturgesetzgebung in ihren verschiedenen Zweigen 
eine bereits in Angriff genommene Aufgabe. 
Im Finanzwesen bin Ich gewillt, auf den altbewährten Grundlagen 
mit Vorsicht weiterzubauen. Um die gerechte Verteilung der öffentlichen Lasten 
sicherzustellen und dem Staate wie den Gemeinden die Mittel zur Bestreitung 
ihrer Bedürfnisse nachhaltig zu gewähren, wird der sachgemäßen Weiter- 
führung der Steuergesetzgebung Meine volle Aufmerksamkeit zugewendet sein. 
Möge über Ihren Beratungen allezeit der Geist der Mäßigung und Ver- 
söhnlichkeit walten; mögen Ihre Verhandlungen getragen sein von der Ueber- 
zeugung, daß das Glück Meines Volkes die einzige Richtschnur Meines 
Handelns ist, dann wird unseren gemeinsamen Bestrebungen mit Gottes 
Hilfe der Erfolg nicht fehlen! Stark durch ein unzertrennliches Band gegen- 
seitigen Vertrauens, welches Fürst und Volk umschlingt, darf Ich die Er- 
füllung des heißesten Wunsches erhoffen, der Mich beseelt, daß Meine Re- 
gierung dem geliebten Württemberg möge sein: eine Zeit der Wohlfahrt 
und des Friedens. Das walte Gott!“ 
27. Oktober. Ankunft des Königs von Rumänien in 
Potsdam zum Besuch bei dem Kaiser. 
27. Oktober. Reichstagswahl in Stolp-Lauenburg. Der 
liberale Kandidat Hofbesitzer Dau erhält 11,861, der Konser- 
vative v. d. Osten 7868, Sozialist Herbert 302 Stimmen.
	        
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