Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 10.) 163
mehr finden konnte, was sie im Auslande, welches sich, wie die vorgenannten
Staaten, auf die Dauer gegen uns abschließen zu wollen scheint, verlor, —
das zu ersetzen durch eine Vereinigung mit anderen naheliegenden Nationen.
Ich kann nicht zugeben, daß wir damit einen neuen Weg eingeschlagen hätten,
daß das etwas bis dahin nicht Vorhergesehenes wäre. Als im Jahre 1878
die 204 sich um Varnbüler schaarten und die erste Anregung zur Verstär-
kung nationaler Arbeit, wie man sich damals ausdrückte, gaben, haben sie
in einer Denkschrift ausgesprochen: „die schwierigen Fragen der deutschen
Handelspolitik dürfen nicht lediglich nach den Schlagworten von Freihandel
und Schutzzoll gelöst werden; es komme vielmehr darauf an, die wirklichen
unvermeidlichen Gegensätze der Interessen mit Sachkenntnis, Umsicht und
Vaterlandsliebe auszugleichen“. Die jetzige Regierung adoptiert diesen Satz
vollkommen. Das ist es, worauf es ankommt: auszugleichen zwischen den
Interessen mit Vaterlandsliebe. Ebenso ist in den Motiven, die dem ersten
Gesetz von 1879, durch das die Zölle erhöht wurden, beigegeben wurden,
ausgesprochen worden, daß überall sorgsam in Erwägung gezogen werden
müsse, daß die Exportfähigkeit der deutschen Industrie erhalten bleibe.
Diese ersten und nach meiner Ueberzengung klaren und noch heute
richtigen Gesichtspunkte, die der bis zur Stunde geltenden Zollpolitik zu-
grunde lagen, sind mit der Zeit leider und vielfach durch Schlagworte ver-
wischt und in den Hintergrund verdrängt worden. Wir wollen sie wieder
voranstellen und wollen darauf auch die künftige Politik aufbauen. Das
ist nicht anders möglich, als indem Konzessionen gemacht werden, Konzessionen
zunächst im Innern. Wie aber diese Männer zu Varnbüler sagen: die
Vaterlandsliebe muß zuletzt das Entscheidende sein, — so sind auch wir der
Meinung, Handelsverträge mit anderen Staaten sind nicht abzuschließen so,
daß in beiden Staaten alle Teile befriedigt sind und sich darüber freuen.
Das ist nicht möglich. Es müssen die Staaten einander Konzessionen machen,
und ebenso müssen die Interessengruppen im Innern eines Staates gegen
einander Konzessionen machen um des Staates, um des Ganzen willen.
Wir müssen wünschen, daß bei jeder Betrachtung dieser Verträge der
Standpunkt festgehalten wird, daß es auf das Ganze ankommt. Gegenüber
dem gesteigerten Wert und dem gesteigerten Impuls der wirtschaftlichen Be-
triebe ist eine Regierung mehr vielleicht noch als früher genötigt, in erster
Linie immer das Ganze im Auge zu behalten. Die verbündeten Regierungen
werden keinen Augenblick vergessen, was sie den einzelnen Erwerbszweigen
schuldig sind, was der Staat ihnen verdankt, wie eng sein Wohl mit ihrem
Gedeihen verknüpft ist. Aber es ist ein alter Satz, daß jede Vereinigung,
selbst die Familie, den Egoismus des Einzelnen verstärkt und zum verstärkten
Ausdruck kommen läßt. Was ein einzelner sich nicht gestatten würde, glanbt
er für die Genossenschaft, in der er steht, verlangen zu können. So geht
es auch mit den wirtschaftlichen Interessentengruppen: sie steigern den Egois-
mus und bringen ihn zu einem unverhohlenen Ausdruck. Das ist gut,
dagegen ist nichts zu sagen; sie sind berechtigt, es zu thun. Aber je schärfer
sie das selbst thun, je schärfer sie ihre eigenen Interessen zur Geltung bringen,
um so mehr muß die Regierung darüber wachen, daß der Standpunkt des
Ganzen nicht geschädigt wird.
Wir können von den vorliegenden Verträgen, wenn sie Ihre Zu-
stimmung und die Zustimmung der Parlamente derjenigen Staaten, mit
denen wir die Verträge abgeschlossen haben, finden werden, nicht erwarten,
daß die Wirkung eine plötzliche sei; das kann nur langsam geschehen: lang-
sam nur werden die Konsumenten hier und da billiger kaufen, langsam nur
wird die Industrie neue Wege finden, bier und da andere Maschinen er-
werben, sich auf einen veränderten Betrieb einrichten. Es ist aber sehr schwer,
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