76 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2)
der geringen Kräfte, die mir bleiben, vorzuenthalten, wenn er nicht über
das Maß meiner Leistungsfähigkeit gefordert wird.
Wenn ich Ihnen sagte: Ich kann jetzt nicht nach Berlin, so will ich
hinzufügen, daß für meine Anwesenheit dort im Augenblick kaum ein Be-
dürfnis vorliegt. — Der Reichstag wird nur noch kurze Zeit tagen, und
es steht, soviel ich weiß, keine Frage zur Debatte, auf die Einfluß zu
nehmen im jetzigen Stadium derselben thunlich wäre oder die unsern Wahl-
kreis im besonderen interessierte. Sollten solche infolge neuer Vorlagen noch
zur Beratung kommen, so werde ich mich daran nach Möglichkeit meiner
Gesundheit beteiligen. Abgesehen davon aber, bitte ich Sie, als Ihr Ab-
georgneter, einstweilen um Urlaub. Nicht bloß die Unbequemlichkeit, außer-
halb der eigenen Häuslichkeit zu wohnen und zu schlafen, hält mich augen-
blicklich von Berlin zurück, sondern auch die Aussicht auf peinliche Begeg-
nungen mit früheren Freunden, die solche zu sein seit meinem Abgange
aufgehört haben. Ich hoffe, von Ihnen hat niemand die schlimme Erfahrung
selbst gemacht, mit seiner geschiedenen Frau unversöhnt unter einem Dach
zu wohnen. Aehnlich ist das Widersehen mit geschiedenen Freunden. Sie
werden sich vorstellen können, daß ich in Berlin Begegnungen haben werde,
die meinen früheren Freunden vielleicht ebenso und mehr als mir unerwünscht
sein würden. Das ist ein Imponderabile und die konventionellen Formen
decken die inneren Eindrücke solchen Wiedersehens. Aber ich mag sie mir
nicht früher auferlegen, als es pflichtgemäß notwendig wird. Das Mandat
dauert ja aber auch länger und bei der Schnelligkeit, mit der wir leben,
können sich die Umstände und die Eindrücke bis dahin ändern. Natürlich
kann ich nach meiner Vergangenheit nicht einer Partei angehören; wenn ich
in gewissem Sinne auch Parteimann bin, so bin ich es für das alte Kartell,
dafür, daß die staatserhaltenden Parteien sich soweit verständigen, wie es
ihnen möglich ist und die Dornen ihrer Programme nicht gegeneinander
kehren. Dies war es stets, was ich in meiner letzten Zeit als Minister
erstrebt habe. Ich bin mit den Nationalliberalen ja weit gegangen und
von ihnen oft gestützt worden. Es ist mir eine der widerlichsten Lügen,
daß ich das Wort gesprochen haben soll, ich wollte die Nationalliberalen an
die Wand drücken, bis sie quietschten. Der letztere Ausdruck ist so ekelhaft
geschmacklos, daß ich ihn an sich schon nie gebraucht haben würde. Wes-
halb ich mit den Nationalliberalen auseinander kam, das lag hauptsächlich
daran, daß ihre Führer mit einigen meiner Kollegen im Ministerium ohne
mich und gegen mich enge Fühlung gewonnen hatten. Ich befand mich
dabei in der Defensive, nicht im Angriffe. Sollte eine der staatserhaltenden
Parteien für sich allein oder mit andern zusammen die Majorität erlangen,
so würde dies ein großes Glück sein. Mir gibt es jedesmal einen Stich
in das politische Herz, wenn ich sehe, daß die Fraktionen, die gleich ehrlich
bemüht sind um die Erhaltung des Reiches, in Feindseligkeiten gegenein-
ander bis zu giftigen Invektiven gehen. Da moöchte ich gern als frieden-
stiftender Gemeindediener dazwischen springen und jedem beweisen, daß der
tertius gaudens der schlimmere Feind ist. Das ist die Linie, in der auch
meine parlamentarische Thätigkeit, wenn es zu einer solchen kommt, sich
bewegen wird. Der Gedanke einer prinzipiellen Opposition gegen meinen
Amtsnachfolger und die Regierung liegt mir außerordentlich fern; ebenso
fern aber liegt es mir, still zu sein gegenüber von Vorlagen, die ich für
schädlich halte. Was in aller Welt soll ein Grund für mich sein, bei solcher
Gelegenheit zu schweigen? Etwa der? daß ich größere Erfahrung besitze,
als die meisten anderen? TDie Pflicht, zu reden, welche sich gerade aus
meiner Sachkenntnis dann ergibt, zielt in meinem Gewissen wie mit einer
Pistole auf mich. Die Herren, welche mich deswegen angreifen, haben davon