78 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2.)
(Sehr richtig!) Die Verhältnisse in der Provinz Posen haben sich im Laufe
der fünf Jahre nicht so geändert, daß die Regierung diejenigen Mittel, die
sie damals für nötig gehalten hat, um die Zugehörigkeit der Provinz Posen
zum preußischen Staate zum vollen Ausdruck zu bringen, aus der Hand
geben könnte. Ich glaube nicht, daß in den letzten Jahren das germanische
Element gegen das polnische in der Provinz Posen vorgeschritten ist. Im
allgemeinen ist in den Jahren von 1867 bis 1886 eine Zunahme der Polen
zu konstatieren gewesen; während im Jahre 1867 der Prozentsatz der Gesamt-
bevölkerung, der rein polnische Familiensprache hatte, sich auf 54,86 Prozent
bezifferte, waren es 1886 57,69 Prozent geworden. (Hört, hört!) Ich bin
nicht in der Lage, für das laufende Jahr eine Zahl anzuführen — wir sind
noch nicht in deren Besitz aber ich halte es für wahrscheinlich, daß ein
Rückgang des polnischen Elements nicht stattgefunden hat, und zwar aus
verschiedenen Gründen. Einmal befinden wir uns in einer Bewegung, die
eine gewisse Aehnlichkeit mit der Völkerwanderung hat. Sie vollzieht sich
mit modernen Mitteln; es ist aber eine Bewegung von Osten nach dem
Westen da. Diese Bewegung hält nicht still an unseren Grenzen, sondern
sie setzt sich von da aus weiter fort. Ich halte es für wahrscheinlich, daß, wie
es in anderen Grenzprovinzen ist, so auch in der Provinz Posen im letzten
Jahre ein erhöhter Zuzug nicht deutscher Elemente, trotz des Ansiedelungs-
gesetzes, stattgefunden haben wird. Ich halte weiter für wahrscheinlich, daß
das polnische Element an Zahl zugenommen hat, weil es bis dahin ein
statistisch festgesetzter Erfahrungssatz gewesen ist, daß die polnischen Ehen im
Durchschnitt um ein Kind reicher sind, wie die germanischen Ehen. (Heiter-
keit.) Also auch dieses Naturgesetz wirkt dahin, das polnische Element nicht
zu schwächen.
Wenn dies eine Betrachtung ist, die die numerischen Verhältnisse be-
trifft, so glaube ich, daß auch dem inneren Werte nach das polnische Element
nicht zurückgegangen ist. Unter der preußischen Regierung und mit der Bei-
hilfe der preußischen Regierung, nicht zum wenigsten durch die Säkularisation
der polnischen Klöster, aus denen die Mittel zur Dotierung polnischer Schulen
und Gymnasien hergenommen wurden, ist ein Mittelstand in der Provinz
Posen entstanden, der eine kräftige Stütze des polnischen Elements bildet, so
daß ich der Meinung bin: nicht nur numerisch, sondern auch innerlich hat
das polnische Element zugenommen.
Nun sind, seit die jetzige Regierung diese Plätze einnimmt, von seiten
polnischer Abgeordneten hier und da Aeußerungen laut geworden, die darauf
schließen lassen, daß man polnischerseits gewillt sei, eine veränderte Stellung
der preußischen Regierung und dem preußischen Staate gegenüber einzu-
nehmen.
Der Herr Abgeordnete hat die Frage an mich gerichtet, ob die jetzige
Regierung den Standpunkt des Fürsten Bismarck einnimmt, und hat diesen
Standpunkt nachher dahin präzisiert, daß er ein haßerfüllter gegen die Polen
gewesen sei. (Sehr richtig! bei den Polen.) Ich muß dem Herrn Abgeordneten
überlassen, mit seinem Gewissen sich darüber einig zu werden, ob dieser Aus-
spruch auf den Fürsten Bismarck zutrifft. (Unruhe bei den Polen.)
Auf die gegenwärtige Regierung trifft er nicht zu. Wir hassen die
Polen nicht. Wir sehen sie als Mitbürger an — schwierige Mitbürger zu
Zeiten, zeitweise auch verirrte Mitbürger von unserem Standpunkte aus,
aber immer unsere Mitbürger, mit denen zusammenwirken zu können zum
Besten des Staates uns zu allen Zeiten eine Freude sein wird. (Bravo!)
Wir stehen in Bezug auf das Ansiedelungsgesetz und in Bezug auf
das ganze politische Leben auf dem Standpunkt des Gesetzes und find gewillt,