Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2.) 70
die bestehenden Gesetze gegen Polen und gegen Deutsche, für Polen und für
Deutsche gleichmäßig zur Anwendung zu bringen.
Wenn nun polnischerseits der Wunsch laut geworden ist, sich der
Regierung mehr zu nähern, so kann uns das ja nur recht sein. Aber es ist
doch natürlich, daß wir, als dieser überraschende Wunsch zuerst bei einer
Reichstagsdebatte im vorigen Jahr auch zum praktischen Ausdruck dadurch
kam, daß die polnische Fraktion, die sich sonst der Vermehrung deutscher
Wehrkraft widersetzt hatte, für diese Vermehrung eintrat, daß wir uns da
die Frage vorlegten: Was mag denn der Grund zu dieser veränderten Stel-
lung sein:? Wenn über hundert Jahre Deutsche und Polen gemeinsam in
nichtfreundschaftlicher Weite gelebt haben, so war es vom deutschen Stand-
punkt erklärlich, daß man diesen Umschwung, wenn auch erfreulich, so doch
überraschend fand. Man konnte glauben: Haben die Gesetze, über die die
Polen so viel geklagt haben, Sprachgesetz, Gerichtsgesetz, Schulgesetz, haben
die doch am Ende so stark gewirkt, daß polnischerseits eine Nachgiebigkeit als
Folge dieser Wirkung auftritt — oder halten die Polen die jetzige Regierung
für so schwach, daß sie glauben. ihr etwas bieten zu können, was sie der
vorigen Regierung nicht geboten haben? (Zurufe rechts.) Die Staatsregierung
hat keine dieser Auslegungen acceptiert. Sie hat sich an die Thatsache ge-
halten, daß ein freundlicherer Ton von seiten der Polen angeschlagen wurde.
Sie hat aber doch nicht vergessen können, daß in der Epoche, die die Pro-
vinz Posen mit dem preußischen Staate verbindet, Zeiten dagewesen sind, in
denen wir schon ähnliche Klänge gehört haben. (Sehr richtig! rechts.) Ich
darf erinnern an die ersten Zeiten der Regierung Friedrich Wilhelm IV. —
und ich will nicht erinnern an das, was darauf folgte, um nicht Wunden
wieder aufzureißen, von denen wir ja auch hoffen: sie vernarben, — um
nicht einen scharfen Ton in die Debatte zu bringen, denn ich habe heute zum
erstenmal das Vergnügen gehabt, den Herrn Vorredner sprechen zu hören;
ich habe aber in den stenographischen Berichten über seine sonstigen Reden
mich zu orientieren gesucht und kann mit Freude heute feststellen, daß sein
Ton ein gemäßigterer war als früher. Ich möchte nicht dazu beitragen, daß
der frühere Ton wieder angeschlagen würde. Die Botschaft dieses sanfteren
Tons haben wir gehört, der volle Glaube hat uns aber hier und da noch
gefehlt; aber (Abg. Dr. v. Jagdzewski: Kommt noch!) — Gehen Sie voraus;
das ziehen wir vor! (Heiterkeit.) Dann kommen wir mit Ihnen. Wir
stehen — ich wiederhole es — auf dem Boden des Gesetzes und glauben da
einen sicheren Boden unter uns zu haben. Jetzt kommen polnische Mitbürger,
die so lange gegrollt haben, und winken uns: kommt her. Wir sind vor-
sichtig, unfern sichern Boden zu verlassen und uns auf ein unbekanntes Terrain
an der Hand unserer neuen Freunde zu begeben. Aber wir wollen das nicht
abweisen; im Gegenteil, wir sind Ihnen in einzelnen kleinen Dingen nach-
gekommen. Gehen Sie weiter auf dem Wege der Versöhnung, so werden Sie
es der Regierung und den Deutschen in der Provinz Posen möglich machen,
Ihnen auch weiter zu folgen. Ich habe mich gegenüber einem der Herren,
die mit mir darüber sprachen, des Gleichnisses bedient: Sie machen uns ein
freundliches Gesicht; das freut uns, aber Sie können nicht verlangen, daß
wir Ihnen nun um den Hals fallen. (Heiterkeit.) Wir wollen wieder freund-
lich sein, aber wir wollen abwarten, wie diese der preußischen Regierung
wohlwollende Entwickelung sich weiter gestaltet, und werden in dem Maße
Ihnen folgen, als Sie uns vorangehen. (Sehr richtig!) Das Ansiedelungs-
gesetz. welches wir für eins der wichtigsten halten, jetzt aufzugeben, dazu sind
die Motive des Wohlwollens, das uns von der anderen Seite entgegengebracht
worden ist, noch nicht gewichtig genug. (Bravo!)