Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Siebenter Jahrgang. 1891. (32)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 1.) 89 
Sinn gehabt, zu einem Freihandelssystem in Bezug auf das Getreide über— 
zugehen. (Hört, hört! Sehr gut! rechts und im Zentrum.) 
Wir haben in Verhandlungen, die ja offenkundig sind, mit anderen 
Staaten uns entschlossen, zu einer gewissen Herabsetzung unserer Getreidezölle 
die Zustimmung zu geben, aber unter der Voraussetzung, daß wir da auf 
anderem Gebiete Gewinne machen, die uns eben Aequivalente dafür geben 
Ich bin nicht in der Lage, mich im Augenblick in dieser Beziehung zu 
äußern, und muß zugleich im voraus sagen, daß, wenn irgendwo die Debatte 
auf den deutsch-österreichischen Handelsvertrag geleitet würde, ich wiederum 
in der Notwendigkeit sein würde, auf eine Unterhaltung darüber nicht ein- 
zugehen und nur zu konstatieren, daß ich die Behandlung dieses Themas in 
weiterem Maße zur Zeit auf das äußerste beklagen müßte. (Hört, hört!l) 
Führten wir nun geringere Zölle ein aof kürzere Zeit, oder schritten. 
wir auf kürzere Zeit gar zu der vollständigen Aufhebung der Getreidezölle, 
so müßten wir doch auch mit der Möglichkeit rechnen, daß am Ende dieses 
Termins der deutsche Markt mit ausländischem Getreide dermaßen über- 
schwemmt sein könnte (sehr richtig!), daß dann unsere nächste Ernte in Ver- 
legenheit wäre. (Lebhafte Zustimmung.) 
Die französische Regierung hat in dieser Beziehung nach meiner An- 
sicht korrekt gehandelt — es kann hier nicht meines Amtes sein, in eine 
Untersuchung darüber einzutreten, welche Motive die französische Regierung 
geleitet haben können — aber ich erkenne an, daß sie richtig gehandelt hat: 
sie läßt diese Zölle erst vom nächsten August an fallen, also zu einem Termin, 
wo mit der dann beginnenden stärkeren Einfuhr die eigene Ernte schon kon- 
kurrieren kann. 
Ließen wir unsere Zölle heute fallen, so würden wir in der Lage 
sein, möglicherweise — das sind alles Dinge, ich wiederhole es, die nicht 
mit apodiktischer Gewißheit zu beweisen sind — möglicherweise eine so starke 
Einfuhr zu bekommen, daß dann unsere Landwirtschaft unter der Unabsetz- 
barkeit der eigenen Ernte litte. (Sehr richtig!) 
Neben diesen auf den Handel und die Landwirtschaft basierten Mo- 
tiven hat die Staatsregierung auch Motive politischer Art. Man kann uns 
einwenden: macht doch dieser unerquicklichen Agitation ein Ende. Es ist ja 
nichts einfacher für die Regierung, als daß sie sagt: die öffentliche Meinung 
ist dafür, — wir würden vielleicht in allen Parteien dieses Hauses Stimmen 
für einen Schritt beim Bundesrat, der auf Aufhebung der Zölle zielte, ge- 
winnen können. Ja, wenn wir von dem Gesichtspunkt ausgingen, so wäre 
unsere Verantwortung allerdings leicht gedeckt. Ich bin aber der Meinung, 
daß eine Regierung dazu da ist, Verantwortung zu tragen und auf sich zu 
nehmen, wenn sie davon überzeugt ist, daß das, was sie will, zum Besten 
des Staates dient. (Sehr richtig!) 
Eine Regierung muß auch gegen den Strom schwimmen können; 
(sehr gut!) und selbst, wenn der Strom der Agitation in Bezug auf diese 
Maßregel noch wachsen sollte, so traue ich uns zu, daß der Strom uns nicht 
auf die andere Seite bringen wird (sehr gut! Bravo!), so wenig wie manche 
andere Agitation uns schon aus der Richtung gebracht hat, die wir für die 
richtige gehalten haben. (Lebhaftes Bravo!) 
Wir haben — und darin möchten wir niemandem nachstehen — ein 
warmes Herz für die armen Klassen. Aber auch in dieser Beziehung glauben 
wir recht zu handeln, wenn wir auf eine Herabsetzung oder Aufhebung der 
Getreidezölle auf einige Monate nicht eingehen. Wie weit würde sich denn 
der Brotpreis ändern, wenn die ganze Welt, der Zwischenhändler und der 
Bäcker, an sich auch Leute, die ihr gutes Recht haben, einen Gewinn machen 
zu wollen — von Hause aus wüßten: die Sache dauert nicht lange? Was
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.