Rußland. (April Ende—Juni Anf.) 285
ministrativ aus Petersburg verbannt. Die That ist, wie man an-
nimmt, ein Nacheakt; denn Andrejanow wurde vor zwei Jahren
von einem Gerichtshof, bei welchem Alexejew als Gerichtsbeisitzer
sungierte, verurteilt. Alexejew genoß allgemeine Sympathie.
Ende April. Gerüchtweise verlautet von einem Attentat auf
den Zaren auf seiner Reise nach Südrußland. Die Zeitungen be-
richten darüber:
Während der Reise des Zaren nach dem Süden versammelten sich
unweit Charkow mehrere Tausend Bauern, um gegen gewisse örtliche Miß-
bräuche zu petitionieren, legten sich nieder auf die Schienen und weigerten
sich, sich zu erheben, bis der kaiserliche Zug anlangte. Es entspann sich
ein Kampf, der den Tod von 15 Soldaten zur Folge hatte. 42 Bauern
wurden entweder durch die Kugeln der Soldaten getötet oder vom kaiser-
lichen Zuge zermalmt. Nach anderer Darstellung waren es nicht Bauern,
sondern Kosaken. Nach der Darstellung des Charkower Amtsblattes wurde
der kaiserliche Zug eines Morgens um 5 Uhr durch optische Signale und
Abfeuern von Schüssen durch die längs der Geleise aufgestellten Soldaten
zum Stillstand gebracht, da entdeckt worden war, daß eine Schiene aufge-
rissen worden war. Von anwesenden Bauern ist nicht die Rede. Die
Schiene wurde ausgebessert, in acht Minuten setzte der Zug die Reise ohne
weitere Störung fort. Die angestellte Untersuchung ergab, daß der Unfall
nicht der Fahrlässigkeit des Bahnpersonals zuzuschreiben ist.
Anfang Juni. Der Kaiser von Rußland übermittelt dem
Sultan als Geschenk ein Album, welches die künstlerisch ausge-
führten Abbildungen sämtlicher Schiffe der russischen Flotte im
Schwarzen Meere enthält.
Anfang Juni. Der österreichische Minister des Auswärtigen,
Graf Kalnoky hielt am 3. Juni im Ausschuß der ungarischen De-
legation sein Exposee über die auswärtige Lage.
Die Rede begegnet in Rußland keineswegs einer besonders freund-
lichen Aufnahme. Man guittiert in Petersburg mit kaltem Lächeln über
die aus dem Munde des österreichischen Ministers des Auswärtigen ver-
nommenen Freundlichkeiten, wiederholt aber mit vielsagendem Achselzucken,
daß die Freundlichkeiten nur Wert hätten, wenn die Worte in Thaten ver-
wandelt würden. Ueber den Eindruck, welchen die „historische" Rede des
Grafen Kalnoky in Rußland gemacht hat, schreibt „Nowoje Wremja“:
„Man könne noch nicht an die Aufrichtigkeit des offiziösen öster-
reichischen Jubels glauben, man müsse vielmehr befürchten, daß sich dahinter
der Versuch verberge, die Oeffentlichkeit glauben zu machen, Rußland sei ge-
neigt, Oesterreich-Ungarn auf dem Boden der sogenannten Balkanfrage wich-
tige Konzessionen zu machen. Nur hieraus lasse es sich erklären, daß die
österreichisch-ungarischen Offiziösen die Nede als eine „Beendigung der
rientfrage im allgemeinen“ ketrachten, und es könne durchaus nicht Wunder
nehmen, wenn es sich schon bald herausstellen sollte, daß der ganze Jubel
nur inszeniert worden sei, um vor der Oeffentlichkeit eine viel wesentlichere
und wichtigere Angelegenheit zu vertuschen. Kalnoky sage geradezu, daß die
gegenseitigen guten Beziehungon zwischen dem Petersburger und Wiener
Kabinet in der Zukunft eines der mächtigsten Mittel sein werden, um Europa