Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 20. 21.) 15 
gelesen, der diese Zahl ebenfalls ausbeutet, und am Schlusse sagt: Nun 
sieht man, wie es in Deutschland zugeht; in dem Staat der Stumm-Posa- 
dowsky müssen die Arbeiter über die Thür schreiben: Ihr Arbeiter, lasset 
alle Hoffnung hinten! (Heiterkeit.) Es wird aber der Welt verschwiegen, 
daß die 7000 Arbeiter, die auf dem Felde der Arbeit ehrenhaft gefallen 
sind, doch versichert waren und daß sie die Segnungen der sozialpolitischen 
Gesetze genießen, daß ihre Witwen und Kinder auf Grund derselben Renten 
bekommen. 
Am 21. Januar spricht Abg. Prinz Schönaich-Carolath (wild) 
für Zulassung von Frauen zum ärztlichen Beruf und zum Besuch der 
Universitäten. Man müsse sie zum Examen zulassen. Staatssekretär Graf 
Posadowsky: Daß die Frauen dieselben Geistesgaben für die wissen- 
schaftlichen Studien haben, ist nicht zu bestreiten. Daß die Frauen, be- 
sonders für die Kinder- und Frauenkrankheiten, gute Aerzte sein werden- 
ist zuzugeben. Ich habe mich mit dem preußischen Kultusminister in Ver- 
bindung gesetzt und dieser hat mir erklärt, Frauen werden zum Maturitäts- 
examen zugelassen als Extraner. Die Frauen sollen auch zum medizinischen 
Studium zugelassen werden, wenn der Rektor und der Kurator der Uni- 
versität damit einverstanden sind. Das Recht zum Kollegienbesuch kann 
aber bei gastweisem Besuch der Universität nur erlangt werden durch Ge- 
nehmigung des Dozenten. Ich bin überzeugt, daß sich an verschiedenen 
Universitäten, namentlich auch in Berlin, eine Reihe von Dozenten finden 
werden, welche die Frauen zulassen. Die Reichsgewerbeordnung kennt 
keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Studenten. Es wird 
Sache des Reichskanzlers sein, eine Uebereinstimmung der verbündeten Re- 
gierungen darüber herbeizuführen, daß, wenn Damen die Vorbedingungen 
zur ärztlichen oder pharmazeutischen Prüfung erfüllen, sie zu denselben zu- 
gelassen und schließlich auch approbiert werden. Die preußische Unterrichts- 
verwaltung hat Bedenken gegen die Immatrikulation der Frauen und ge- 
stattet nur den gastweisen Besuch. In Bezug auf die Prüfung und die 
Approbation wird aber eine Verständigung zwischen dem Reichskanzler und 
den Einzelregierungen herbeigeführt werden. 
Abg. Wurm (Soz.) fordert Verwendung der Frauen zur Fabrik- 
inspektion. Hierauf erwidert Graf Posadowsky am folgenden Tage: 
Ich möchte auch mit einigen Worten auf die weiblichen Aufsichtsbeamten 
zu sprechen kommen. Meine Herren, in England, auf das bei dieser Ge- 
legenheit wiederholt exemplifiziert worden ist, befinden sich nur 5 weibliche 
Aufsichtsbeamte. (Hört, hört! bei den Nationalliberalen.) Also auch dort 
ist man mit dieser Maßregel außerordentlich vorsichtig vorgegangen. Wir 
haben aber, um uns über diese Frage gründlich zu unterrichten, Anfragen 
sowohl nach Amerika, wie nach England gerichtet, wie dort die Thätigkeit 
der weiblichen Auffichtsbeamten wirkt. Ich gestatte mir, zunächst die Mit- 
teilung vorzulesen, welche seitens unserer Botschaft in England eingegangen 
ist auf Grund einer Verbindung mit Lord Salisbury. Dort heißt es: 
„Die weiblichen Inspektoren bildeten nach wie vor, wenn sie auch die Er- 
ledigung von Fragen rein technischer Art meistens den männlichen Inspek- 
toren überließen, ein durchaus selbständiges Detachement. Diese weiblichen 
Inspektoren hätten auch in den letzten zwei Jahren bei allen von ihnen 
geführten, die Beschäftigung von Frauen und Kindern betreffenden Unter- 
suchungen eine äußerst ersprießliche Thätigkeit entwickelt.“ Weniger gün- 
stig lauten die Nachrichten aus Amerika. Dort scheint man über den Wert 
der Verwendung von weiblichen Beamten für die Fabrikaufsicht noch ziem- 
lich geteilter Ansicht zu sein. Um aber vollkommen gerecht zu bleiben, will 
ich selbst darauf hinweisen, daß die weniger befriedigende Thätigkeit der
	        
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