Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 27. 31.) 23 
vertreten sein. Der Antragsteller begründet den Antrag mit dem Hinweise, 
daß in vielen Kommunen wenige reiche Leute ganze Wählerklassen allein 
beherrschen. Das beste würde sein, das allgemeine gleiche Wahlrecht für 
die Kommunen und den Landtag einzuführen, aber das sei bei der jetzigen 
Zusammensetzung des Hauses nicht zu erreichen. Minister des Innern 
v. d. Recke: Die Regierung bereite eine Reform der Kommunalwahlen 
vor, aber bei der schwierigen Materie müsse man vorsichtig vorgehen. 
Abg. v. Eynern (nl.): Der Antrag sei aussichtslos und solle nur Agi- 
tationsstoff liefern. Das bestehende System sei schlecht, aber die Vorschläge 
des Zentrums verdienten Mißtrauen. Abg. v. Dallwitz (kons.): Die vom 
Antragsteller betonten Uebelstände seien vereinzelt und würden infolge der 
Steuerreform noch mehr verschwinden. — Der Antrag wird an eine Kom- 
mission verwiesen. 
27. Januar. (Berlin.) Der „Reichs-Anzeiger“ ver- 
öffentlicht einen königlichen Erlaß über den Rang der Gerichts- 
beamten, der Auditeure, der Baubeamten, Gewerbeinspektoren, 
Techniker und akademisch gebildeten Lehrer. 
31. Januar. (Reichstag.) Justizetat. Erklärung über 
Deportation von Verbrechern in die Kolonien. 
Abg. Rickert (fr. Vg.) fragt die Regierung, was sie von der in 
der Oeffentlichkeit viel diskutirten Möglichkeit, Sträflinge in die Kolonien 
zu deportieren, halte. Staatssekretär des Reichs-Justizamts Dr. Nieber- 
ding: Meine Herren! Die Frage, ob nicht ein Teil unserer Gefängnis- 
strafen ersetzt werden könne durch die Einführung der Deportation, ist ja 
in den letzten Jahren, wie der Herr Vorredner zutreffend hervorgehoben 
hat, vielfach und so lebhaft erörtert worden, daß auch die Reichs- Justiz- 
verwaltung sich nicht hat entziehen können, ihre Aufmerksamkeit ihr zuzu- 
wenden. Es ist zweifellos, daß, wenn es gelingen sollte, diese Frage derart 
zu bejahen, daß es praktisch möglich sein würde, einen Teil unserer Ge- 
fängnissträflinge zur Verbüßung der Strafen in den Kolonien abzuführen, 
damit für unser Gefängniswesen in finanzieller, wirtschaftlicher und mora- 
lischer Beziehung ein Vorteil erzielt würde, der nicht unterschätzt werden 
darf. Diese Erwägung hat auch der Reichsverwaltung Veranlassung ge- 
geben, sich zunächst darüber Aufklärung zu verschaffen, wie an Ort und 
Stelle bei den einzelnen Kolonieverwaltungen die Frage angesehen wird. 
Wenn wir die Durchführbarkeit von Maßregeln der angeregten Art prüfen 
wollen, werden wir zunächst doch wissen müssen, wie die Stellen, die die 
Verhältnisse der einzelnen Kolonien am genauesten und authentisch kennen 
und die in der Lage sind, ein verantwortliches Votum in der Sache abzu- 
geben, über die Ausführbarkeit denken. Nun, meine Herren, hat im Jahre 
1895 bis in das Jahr 1896 hinein hieraus die Kolonialverwaltung Anlaß 
genommen, an die Gouverneure unserer afrikanischen Kolonien zu schreiben, 
an die Gouverneure von Togo, von Kamerun, von Südwest-Afrika und 
von Ost-Afrika, und die Frage zu stellen, in wie weit sie es für zulässig, 
finanziell durchführbar und im Interesse der Kolonien, andererseits aber 
auch im Interesse der Sträflinge erachten würden, wenn man die Depor- 
tation in gewissen Grenzen in das deutsche Strafensystem einführen wollte. 
Meine Herren, die Antworten der Gouverneure sind sämtlich verneinend 
ausgefallen. Die Gouverneure der vier Kolonien haben übereinstimmend, 
wenn auch nicht aus ganz gleichen Gründen, wie das ja aus den verschiedenen 
Verhältnissen der Kolonien sich ergibt, aber doch übereinstimmend im
	        
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