Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierzehnter Jahrgang. 1898. (39)

36 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 8.) 
der Luft schweben. In wirtschaftlicher Beziehung brauchen wir eine Ein- 
gangsthür zu dem chinesischen Absatzgebiete, wie Frankreich eine solche in 
Tongking, England in Hongkong und Rußland im Norden besitzt. Das 
chinesische Reich mit seiner riesenhaften Bevölkerung von nahe an 400 Mil- 
lionen Menschen bildet einen der zukunftreichsten Märkte der Welt; von 
diesem Markte durften wir uns nicht ausschließen, wenn wir wirtschaftlich 
und damit politisch, materiell und damit moralisch voran wollten. Wir 
mußten vielmehr dafür sorgen, daß wir dort unter gleichen Chancen mit 
anderen Völkern zugelassen wurden. Gerade weil die mächtig arbeitende 
deutsche Industrie auf vielen europäischen und nicht europäischen Plätzen 
mit großen und wachsenden Schwierigkeiten kämpft, wo sich ihr leider 
manche Länder ganz oder teilweise verschließen, betrachteten wir es doppelt 
als unsere Pflicht, dafür zu sorgen, daß uns für die Zukunft wenigstens 
der chinesische Markt erhalten blieb, nach welchem sich unsere Ausfuhr seit 
10 Jahren verdreifacht hat. Die Konzessionen, welche die chinesische Regie- 
rung den Unterthanen anderer Mächte gemacht hatte mit Bezug auf die 
Anlage von Eisenbahnen und Ausbeutung von Bergwerken legte uns die 
Erwägung nahe, ob es nicht im wohlverstandenen und wohlberechtigten 
Interesse der Entwickelung unserer Beziehungen zu China liegen würde, 
wenn deutsche Staatsangehörige analoge Konzessionen erhielten. Solche 
Konzessionen haben wir erhalten; ich werde sogleich auf dieselben zu sprechen 
kommen. Ohne einen territorialen Stützpunkt würden aber alle deutschen 
Unternehmungen in China im letzten Ende anderen mehr zu gute kommen 
als uns, ohne einen solchen würden unsere technischen und kommerziellen 
Kräfte sich zersplittern, mit einem Wort, würde deutsche Arbeit und deutsche 
Intelligenz, wie dies früher oft genug der Fall war, für anderer Leute 
Aecker den Dünger liefern, statt unseren eigenen Garten zu befruchten. 
(Sehr richtig, sehr gut!) In maritimer Hinsicht war der Erwerb einer 
Station ein Bedürfnis für unsere Flotte. Die Größe und der Umfang 
unserer ostasiatischen Handelsinteressen machen dort die dauernde Anwesen- 
heit eines Geschwaders erforderlich. Dieses Geschwader aber braucht einen 
Hafen, wo deutsche Schiffe, ohne von dem guten oder auch manchmal 
weniger guten Willen fremder Regierungen und fremder Verwaltungen ab- 
hängig zu sein, ausgerüstet, verproviantiert und im Notfalle ausgebessert 
werden können. Das Ansehen und die Schlagfertigkeit unserer Flotte wird 
verdoppelt, wenn dieselbe nicht mehr heimatlos umherschwimmt, sondern 
als Hauptquartier einen Hafen hat, wo sie zu Hause ist. In allgemein 
politischer Hinsicht brauche ich nur daran zu erinnern, daß Frankreich in 
Tongking festen Fuß gefaßt hat, England seit lange in Hongkong sitzt, 
Rußland am Amur steht, während selbst Spanien, Portugal und Holland 
im fernen Osten seit lange eigenen Boden unter den Füßen haben. Wo 
alle diese Mächte zu ihrem augenscheinlichen Vorteil sich Stützpunkte ge- 
sichert haben in Ost-Asien, mußten wir dasselbe thun, wenn wir nicht dort 
einen Macht zweiten oder vielmehr dritten Ranges bleiben wollten. (Sehr 
richtig!) 
Dazu trat noch eine Erwägung. Außer der allgemeinen Pflege 
unserer politischen und wirtschaftlichen Interessen in Ost-Asien liegt uns 
dort auch der Schutz, der sich im Innern Chinas oder in den geöffneten 
Häfen aufhaltenden Fremden und namentlich der Missionare ob. Es würde 
meiner Empfindungsweise widersprechen, wenn ich Gefühle und namentlich 
die heiligsten Gefühle, welche es gibt, religiöse Gefühle, verquicken wollte 
mit realen Interessen. Aber nachdem das Reich den Schutz über die christ- 
lichen und katholischen Missionen in Shantung übernommen hat, und wo 
wir die Ausübung dieses Schutzes nicht allein als eine Pflicht betrachten,
	        
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