Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Februar 8.) 37
sondern auch als eine Ehre, mußte es schwer für uns ins Gewicht fallen,
daß der Vorsteher dieser Missionen, der Bischof Anzer, uns auf das un-
zweideutigste erklärte, daß unsere Festsetzung in Kiautschou eine Lebens-
frage sei, nicht nur für das Gedeihen, sondern geradezu für den Fort-
bestand der chinesischen Mission. Wo es in der Theorie für uns feststand,
daß wir einen Stützpunkt in Ost-Asien gebrauchen, kam es für die prak-
tische Politik darauf an, daß wir einerseits für die Erwerbung dieses Stütz-
punktes den richtigen Augenblick aussuchten, anderseits dieselbe durchführten,
ohne dadurch in Verwickelung zu geraten mit anderen in Ost-Asien gleich-
falls interessierten europäischen Mächten und mit den beiden ostasiatischen
Reichen von China und Japan. Ueber den ersteren Punkt, die Wahl des
richtigen Augenblicks, möchte ich mich nicht weiter verbreiten. Ich meine
aber, daß, wenn unsres Lebens schwer Geheimnis, wie der Dichter gesagt
hat, im allgemeinen liegt zwischen Uebereilung und Versäumnis, im vor-
liegenden Fall die richtige Mitte und der richtige Moment erfaßt wurden,
und daß wir vorbeigekommen sind an der Scylla und an der Charybdis
menschlicher Entschließungen. Was unsere Festsetzung in Kiautschou angeht
ohne unangenehme Friktionen mit anderen Mächten, so kann ich wieder-
holen, was ich schon in der Kommission gesagt habe, daß durch dieselbe
unsere Beziehungen zu keinem anderen Staat getrübt worden sind, wie das
auch nicht anders möglich war bei der absoluten Loyalität, Friedfertigkeit
und maßvollen Selbstbeschränkung unseres Vorgehens. Wir befinden uns
im Einklang mit Rußland, dessen Interessen in Europa nirgends die unse-
rigen durchkreuzen (Bravo!), in Ost-Asien vielfach mit denselben parallel
laufen, und dessen natürliche Machtentwickelung wir als aufrichtige Freunde
mit neidloser Sympathie begleiten. (Lebhafter Beifall). Wir finden es
natürlich und begreiflich, wenn Frankreich von Tongking aus neue Verkehrs-
wege sucht. Und wir sind endlich weit davon entfernt, irgendwie oder
irgendwo berechtigten englischen Interessen entgegentreten zu wollen.
Wenn — nicht von seiten der englischen Regierung, aber in einzelnen
Organen der englischen Presse — zeitweise die entgegengesetzte Auffassung
hervorgetreten ist, so stand dieselbe im Widerspruch mit den thatsächlichen
Verhältnissen. Glücklicherweise ist man sich in London an allen maßgeben-
den Stellen nicht im Zweifel darüber, daß wir im Interesse beider Länder,
im Interesse des Kulturfortschrittes der Menschheit und im Interesse des
Weltfriedens ein harmonisches Zusammenwirken auch mit Großbritannien
für ersprießlich halten. (Lebhafter Beifall.) China gegenüber haben wir
unsere Forderungen in so moderierten Grenzen gehalten, daß dieselben weder
der chinesischen Regierung Anlaß zu berechtigten Ausstellungen gaben, noch
gar die innere Kohäsion oder den Fortbestand des chinesischen Reichs ge-
fährden konnten. Den vollständigen und genauen Text des am 4. Januar
durch Notenaustausch mit China abgeschlossenen Abkommens kann ich Ihnen
leider noch nicht vorlegen, aus dem einfachen Grunde nicht, weil ein Brief
von Peking nach Berlin über sechs Wochen unterwegs ist. Dagegen habe
ich infolge der in der Kommission an mich herangetretenen dankenswerten
Anregung unsere Vertretung in China telegraphisch zu genaueren Mit-
teilungen aufgefordert, und aus der Vergleichung der mir seitdem zu-
gegangenen Meldungen mit meinen eigenen Instruktionen kann ich heute
in Vervollständigung der seiner Zeit vom „Reichs-Anzeiger“ gebrachten
Mitteilung den annähernden Wortlaut des Abkommens mit China, wie
folgt, zu Ihrer Kenntnis bringen:
Die Kaiserlich chinesische Regierung, um den berechtigten Wunsch
der deutschen Regierung zu erfüllen, ebenso wie andere Mächte in den ost-
asiatischen Gewässern einen Punkt zu besitzen, wo deutsche Schiffe aus-