Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

110      Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 19.) 
demokratischen Partei das Gesetz bekämpfen. Was ich aber nicht begreifen 
würde, das wäre, daß diejenigen Parteien, deren Bestrebungen weder auf 
die Einrichtung einer Republik noch auf den Kollektivismus abzielen, sich 
an der grundsätzlichen Bekämpfung der Vorlage beteiligen würden. (Lebhafte 
Zustimmung rechts, Lachen links). Das Koalitionsrecht der Arbeiter soll in 
keiner Weise beschränkt werden. (Erneutes Lachen links.) Den Arbeitgebern 
und Arbeitnehmern bleibt nach wie vor die Möglichkeit und das Recht, 
behufs Einwirkung auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu gemein- 
schaftlichen Verabredungen sich zusammenzuschließen. Arbeiterausstände 
bleiben nach wie vor möglich. Es ist eine Uebertreibung, wenn man be- 
hauptet, daß dem Arbeiter die Möglichkeit abgeschnitten werden solle, seine 
Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das Gesetz soll lediglich die Beschränkung 
der persönlichen Willensfreiheit und die Thätigkeit der gewerbsmäßigen 
Agitation und Verhetzer verhindern. Wenn wir das Gesetz erst in letzter 
Stunde vorgelegt haben, so lag das daran, daß wir früher nicht in der 
Lage waren, die Hindernisse, welche sich der Vorlage entgegenstellten, zu be- 
seitigen. Nun kam das Ende der Tagung heran. Nach der feierlichen 
Ankündigung der Thronrede und bei den Gerüchten, die über den Inhalt 
des Gesetzes in tendenziöser Weise verbreitet wurden, durften die verbün- 
deten Regierungen nicht zögern, den Gesetzentwurf dem Reichstag vorzulegen. 
Jeder Unbefangene wird zugeben, daß die verbündeten Regierungen noch 
heute auf dem Standpunkt von 1890 stehen. Ich hoffe, daß wir, wenn 
auch nicht in diesen Tagen, doch bei den späteren Verhandlungen ein Gesetz 
zustande bringen, das die Interessen der Arbeiter zu schützen geeignet ist. 
(Beifall rechts.) 
             Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky: Die Vorlage wolle 
die Koalitionsfreiheit nicht beeinträchtigen, sie schütze die persönliche Freiheit 
der Arbeiter gegen den Mißbrauch des Koalitionsrechts. Der Terrorismus 
der sozialdemokratischen Arbeiter schüchtere sogar die Zeugen vor Gericht 
ein. Die Koalitionsfreiheit der Sozialdemokratie ist ein Januskopf: Frei- 
heit für die Arbeiter und Zwang für diejenigen, welche sich dem Willen 
der Arbeiter nicht fügen wollen. Das Streben der Marx'schen Politik geht 
dahin, durch die Organisation der Arbeiter die gegenwärtige Staatsform 
zu zersprengen. Die sozialdemokratischen Arbeiter lesen niemals etwas, was 
in anderen Zeitungen steht. Man könnte mit Engelszungen reden, die Ar- 
beiter erführen nichts davon. Die Sozialdemokraten haben eine gut orga- 
nisierte Partei, welche sogar Erlasse erhält, die sich auf dem Ministertische 
befinden. (Lachen links.) Sie haben eine vollkommene Finanzverwaltung 
und ein vollkommenes Steuersystem in den Streikkassen, die sogar zwangs- 
weise eingetrieben werden. Abg. Bebel: Das Gesetz sei ein Ausnahme- 
gesetz gegen die Sozialdemokratie, der es Hunderttausende von Arbeitern 
zuführen werde. Auch die evangelischen und katholischen Arbeitervereine 
seien entrüstet über das Gesetz. Die Arbeitgeberorganisationen würden 
schonend behandelt. Unter den Augen des Herrn v. d. Recke versammelt sich 
der Zentralverband deutscher Industrieller, eine Koalition von Vereinen, 
und beschäftigt sich trotz dem Verbindungsverbote mit politischen Fragen, 
ohne daß die Polizei einschreitet, die jeden Augenblick einschreitet, wenn es 
sich um Arbeiter handelt. Die Aufhebung des Verbindungsverbotes ist 
allerdings versprochen worden, aber das Versprechen ist bis heute nicht ge- 
halten worden. Das Verbindungsverbot besteht als Ausnahmegesetz gegen 
die Arbeiter noch heute. Verurteilungen von Unternehmern seien nur wenige 
vorgekommen, trotzdem dieselben in ihren Arbeitgeberverbänden sehr fleißigen 
Gebrauch gemacht haben von den schwarzen Listen, wofür Redner zahlreiche 
Beispiele anführt.
	        
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