Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfzehnter Jahrgang. 1899. (40)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 21./22.) 111
 
             20. Juni. Abg. v. Levetzow (kons.): Die Sozialdemokratie wolle 
einen Staat im Staate bilden. Die Vorlage verbessere das Koalitionsrecht, 
weil sie dem Arbeiter ermöglicht, von seinem Recht Gebrauch zu machen. 
Abg. Lieber (Z.) erklärt sich namens des Zentrums gegen das Gesetz. 
Anlaß zur Forderung nach Verschärfung der Strafbestimmungen haben die 
Ausschreitungen sozialdemokratischer Führer oder Parteigenossen gegeben. 
Es leiden große Kreise der Arbeiter unter Bedrückung sozialdemokratischer 
Berufsgenossen. Aber wir sind der Meinung, daß dagegen die völlige 
Freiheit der Organisation ein nicht zu unterschätzendes bedeutsames Mittel 
abgeben wird; denn organisierte Arbeiter werden sehr viel vorsichtiger und 
sorgsamer zu Werke gehen, als nicht organisierte Arbeiter. Abg. Basser- 
mann (nl.): Die Vorlage werde den Eindruck hervorrufen, daß die Regie- 
rung das Koalitionsrecht antasten wolle, und das werde den monarchischen 
Sinn der Arbeiter erschüttern und den Sozialdemokraten zu gute kommen. 
Auch in die bürgerlichen Kreise werde durch dieses Gesetz Zwietracht ge- 
tragen und den nationalen Aufgaben dadurch geschadet. Es stehen sich hier 
zwei Weltanschauungen gegenüber. Die eine sieht in der Arbeiterbewegung 
nur die Sozialdemokratie; die andere Weltanschauung vertraut der gesunden 
Vernunft der Dinge. Sie erkennt das Berechtigte der Sozialdemokratie an 
und betont, daß durch eine richtige Sozialpolitik es gelingen wird, das 
Vertrauen der Arbeiter wiederzugewinnen und den Bann der Sozialdemo- 
kratie zu brechen. Auf diesem Wege sind drakonische Gesetze nicht brauchbar. 
Diese letztere Weltanschauung sieht hoffnungsfreudig in die Zukunft und 
vertraut, daß es gelingen wird, die Arbeiter zu gewinnen für eine vater- 
ländische Politik. Aus dieser Anschauung stimme ich gegen das Gesetz und 
gegen die Kommissionsberatung. Abg. Arendt (RP.) für die Vorlage, 
die den Fehler der Aufhebung des Sozialistengesetzes zum Teil wieder gut 
mache. Abg. v. Liebermann (Antis.) hat viele Bedenken gegen die Vor- 
lage, glaubt aber, daß aus ihr etwas Brauchbares geschaffen werden könne. 
Am folgenden Tage erklärt sich Abg. v. Czarlinski namens der Polen gegen 
das Gesetz. - Eine Kommissionsberatung wird am folgenden Tage gegen 
die Stimmen der Konservativen abgelehnt. 
             21./22. Juni. (Reichstag.) Bewilligung der Kaufsumme 
für die Karolinen. Handelsbeziehungen zu Spanien. 
             Für den Erwerb der Karolinen etc. werden 17215000 M, die durch 
eine Anleihe gedeckt werden sollen, und 465000 fortdauernde Ausgaben 
für die Einrichtung der Verwaltung verlangt. Verbunden damit wird die 
erste Beratung der Vereinbarung über die Handelsbeziehungen zwischen dem 
Reich und Spanien, wodurch Spanien die Meistbegünstigung gewährt wird. 
             Staatssekretär v. Bülow: Ich habe der Beschlußfassung des Hauses 
das Abkommen zu unterbreiten, das wir mit Spanien über die Abtretung 
der Südsee-Inseln beschlossen haben. Durch diese Erwerbung wird zunächst 
unser Besitz in der Südsee vervollständigt. Unser Schutzgebiet im Großen 
Ozean bildete bisher einen flachen Halbkreis, eine langgestreckte, unzusam- 
menhängende Linie; durch die Karolinen und Marianen wird der Kreis 
geschlossen: die Marianen im Norden, die Palau-, Karolinen- und Marschall- 
Inseln in der Mitte, das Kaiser Wilhelm-Land und der Bismarck-Archipel 
im Süden bilden nunmehr ein zusammenhängendes Ganzes. Wenn diese 
Inseln in den Besitz einer anderen Macht als Deutschland übergegangen 
wären, so würde dadurch unser Schutzgebiet in der Südsee gewaltsam aus- 
einandergesprengt und in seiner Entwicklung gehemmt und minderwertig 
geworden sein. Von dem Standpunkt unsrer allgemeinen politischen Ent- 
wicklung in der Südsee ist die jetzt erreichte Erweiterung unsrer dortigen
	        
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