42 Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 4./16.)
Bevölkerung dem Staate fernestand und dem Rufe folgte: Ruhe ist die
erste Bürgerpflicht. (Zuruf der Sozialdemokraten: Geschichtsfälschung!)
Heute, wo jeder mit allen Fasern am Staate hängt, ist, glaube ich, ein
Jena überhaupt nicht möglich, es sei denn, daß von einer gewissen Partei
unserem Volke alle Vaterlandsliebe, alle Religion, aller Patriotismus aus
der Brust gerissen würde. (Lebhafter Beifall rechts.) Nicht die Kaiser-
fahne, nicht die Fahne der Armee, sondern nur die rote Fahne der Sozial-
demokratie kann uns nach Jena führen. (Stürmischer Beifall rechts. Große,
andauernde Unruhe bei den Sozialdemokraten.)
Abg. Müller-Meiningen (fr. Vp.) protestiert gegen die Auffassung
der Vorgänge von 1806 und 1813; nicht das kosmopolitisch angehauchte
Bürgertum, sondern das Ausruhen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen
habe die Katastrophe herbeigeführt; ohne das liberale Bürgertum wäre die
Erhebung von 1813 nicht möglich gewesen. Die gegenwärtigen Zustände
in der Armee seien nicht erfreulich; früher habe sie gehorcht und nicht
räsonniert, jetzt räsonniere sie, im inaktiven wie aktiven Teile. Es gehe
eine große Unzufriedenheit durchs Offizierkorps, wie die Presse und Bro-
schüren hervorragender Generale beweisen. Die Unzufriedenheit rühre zum
großen Teil von den zahllosen Uniformänderungen her. Preuß. Kriegs-
minister v. Einem: Um eine Legendenbildung nicht aufkommen zu lassen,
möchte ich erklären, daß es geschichtlich festgestellt ist, daß die preußische
Armee im Jahre 1806 bei Jena geschlagen worden ist, weil sie nicht auf
der Höhe der kriegsmäßigen Ausbildung stand. Ich habe nichts weiter
gesagt, als: die Ehre hat sie im Kriege nicht verloren, sie hat tapfer ge-
kämpft, aber sie war der neuen Kriegsweise des französischen Heeres nicht
gewachsen. Daran ist sie zugrunde gegangen. Es ist ferner geschichtlich
festgestellt, daß der Aufstand des Volkes 1813 das Großartigste und Er-
habenste ist, was ein Volk geleistet hat, und ich glaube, wir können alle
stolz darauf sein, was das preußische Volk in allen seinen Teilen, vom
Bürgerstande bis zum Adel, in dieser schweren Zeit des Vaterlandes ge-
leistet hat. — Die Klagen über Luxus und Uniformänderungen seien weit
übertrieben.
Am folgenden Tage erklärt auf eine Anfrage der Kriegsminister,
es sei in der preußischen Armee den polnischen Soldaten nicht verboten,
in ihrer Muttersprache an ihre Angehörigen zu schreiben oder zu beichten.
Auch der Besuch polnischer Wirtschaften sei nicht verboten, sondern nur
deutschfeindlicher. Abg. Gradnauer (Soz.) protestiert gegen die abfällige
Beurteilung der Sozialdemokraten in der Armee und fordert das Recht
der Notwehr bei Mißhandlungen. Abg. Beumer (nl.): Es sei verwunder-
lich, daß die Sozialdemokratie über Schimpfworte in der Armee klage,
während ihre Mitglieder selbst, wie der Dresdener Parteitag beweise, die
gröbsten und ehrenkränkendsten Ausdrücke einander entgegenschleuderten.
Am 7. März wendet sich Abg. Bebel (Soz.) gegen die Gegenüber-
stellung von sozialdemokratischen und nicht sozialdemokratischen Leistungen;
die Sozialdemokratie werde in einem Deutschland aufgezwungenen Kriege
ihre volle Schuldigkeit tun: Ich sage noch mehr: wir haben sogar das
allergrößte Interesse, wenn wir in einen Krieg gezerrt werden sollen —
ich nehme an, daß die deutsche Politik so sorgfältig geleitet wird, daß sie
selbst keinen Grund gibt, einen Krieg hervorzurufen —, aber wenn der
Krieg ein Angriffskrieg werden sollte, ein Krieg, in dem es sich dann um
die Existenz Deutschlands handelte, dann — ich gebe Ihnen mein Wort —
sind wir bis zum letzten Mann und selbst die ältesten unter uns bereit,
die Flinte auf die Schulter zu nehmen und unseren deutschen Boden zu
verteidigen, nicht Ihnen, sondern uns zuliebe, selbst meinetwegen Ihnen