Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1906. (47)

Rußland. (Januar 28.—Februar Mitte.) 369 
28. Januar bis 5. Februar. (Petersburg.) Versammlung 
von Vertretern der Mohammedaner. 
Die Versammlung beschließt, sich keiner der bestehenden politischen 
Parteien anzuschließen, und was die Reichsduma betrifft, sich selbständig 
zu halten und das Verlangen zu stellen, daß man ihnen auf je eine Million 
Mohammedaner einen Abgeordneten bewilligen solle. Ferner wird der 
Wunsch geäußert, daß künftig die Muftis und deren geistliche Stellvertreter 
nicht mehr wie bisher von der Regierung angestellt, sondern durch lokale 
Wahlen nominiert werden möchten. Es wird beschlossen, die Resultate der 
Beratung der mohammedanischen Bevölkerung Rußlands mitzuteilen. Es 
sollen in allen Gouvernements mit mohammedanischer Bevölkerung Bureaus 
erichu werden, um zu den Wahlen für die Reichsduma Vorbereitungen 
zu treffen. 
8. Februar. Ein Ukas bestimmt folgende Anderung der 
Gewerbesteuer: 
Die zur Veröffentlichung ihrer Rechenschaftsberichte verpflichteten 
Unternehmungen, deren Reingewinn 3 Prozent des Grundkapitals über- 
steigt, sind unter Beibehaltung der Gewerbe- und Kapitalsteuer mit einer 
Prozentsteuer vom Reingewinn, wenn dieser sich zwischen 3 und 20 Prozent 
bewegt, zu belegen, welche von 3 bis 14 Prozent ansteigt. Die Rein- 
einnahmen, welche über 20 Prozent des Grundkapitals betragen, unter- 
liegen außerdem einer 10 prozentigen Steuer. Die Direktoren und Ver- 
waltungsmitglieder aller Unternehmungen, die zur Veröffentlichung der 
Rechenschaftsberichte verpflichtet sind, haben von ihrem Jahresgehalt und 
ihren Gratifikationen, die sie von einem oder mehreren Instituten erhalten, 
eine Prozentsteuer in der Höhe von 1 bis 7 Prozent zu entrichten. Letz- 
terer Stenersatz gilt für Jahresgehälter in der Höhe von 20000 Rubel und 
arüber. 
Mitte Februar. Rechtszustände in Rußland. 
Die „Kölnische Volkszeitung“ bringt hierüber folgenden Bericht vom 
11. Februar: „Die Rechtsprechung ist heute für einen großen Teil Ruß- 
lands illusorisch geworden, nicht nach irgend einem bestimmten System, 
sondern nach der Willkür jedes einzelnen Generalgouverneurs, gegen welche 
selbst die Zentralregierung nichts ausrichten kann. Das Ministerkabinett 
gibt wohl Weisungen, aber der Generalgouverneur läßt sie unter den 
grünen Tisch fallen und meldet höchstens dem Zaren, daß er für eine 
Ruhe seines Gebietes nur dann bürgen könne, wenn er freien Spielraum 
habe. Der Kommandierende des Odessaer Militärbezirkes Baron Kaulbars, 
der sich in dem Kriege gegen Japan so wenig ausgezeichnet hat, pro- 
klamiert, daß er auf „administrativem Wege“ Todesstrafen verhängen werde, 
der Kommandierende des Geschwaders im Schwarzen Meere, Vizeadmiral 
Tschuchnin, gegen den kürzlich ein Attentat erfolgte, gibt kund, daß er in 
dem Prozeß gegen die Menterer auf dem Kreuzer Otschakoff keine Kassations- 
klage zulassen werde. Andere Generalgouverneure wieder verwerfen solche 
Willkürakte. In dem Gouvernement Sambow z. B. wird der Prozeß gegen 
die Mörderin des Generaladjutanten Sacharoff nicht dem ordentlichen Ge- 
richt entzogen, da ja auch dieses auf Todesstrafe erkennen kann. Am 
schlimmsten daran sind heute die Vertreter der Staatsanwaltschaft. Sie 
wissen überhaupt nicht mehr, welche Befugnisse sie noch haben, ob sie die 
administrative Einmischung hinnehmen oder ob sie gegen dieselbe Einspruch 
einlegen sollen. Der Justizminister Akimoff läßt die Dinge gehen, wie sie 
wollen. Dafür läßt er sich aber auch auf das sorgfältigste bewachen. Das 
Europäischer Geschichtskalender. XLVII. 24
	        
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