Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Fünfundzwanzigster Jahrgang. 1909. (50)

42 Das NBeutsche Reich und seine eindelnen Glieder. (Januar 26.) 
Mißverständnissen Anlaß geben. Es wird darin gesprochen von den Grund- 
sätzen des Gesetzes von 1860. Das Gesetz von 1860 enthält aber solche 
Grundsätze gar nicht, und deshalb mußten wir es präziser zum Ausdruck 
bringen, daß die reine Bolksziffer für uns nicht entscheidend ist, sondern 
daß auch wir auf die historische Entwickelung, die landschaftliche Zusammen- 
gehbrigkeit und die Flächengröße Rücksicht nehmen. Wir stimmen also in 
diesem Punkte vollkommen mit den Konservativen, Freikonservativen und 
dem Zentrum überein. Auch vom Gesichtspunkte der Steuerleistung könnten 
die Herren sehr wohl diesem Teile unseres Antrages zustimmen. Sie 
können sich doch gar nicht der Tatsache entziehen, daß z. B. der industrielle 
Westen nach Maßgabe seiner Steuerleistung in der Zahl der Abgeordneten 
weit hinter den Anforderungen der Billigkeit zurückbleibt, wenn Sie die 
östlichen Bezirke damit vergleichen. 
Der Abg. Ströbel begründete die Forderung des Reichstagswahl- 
rechts für Preußen u. a. damit, daß ein aus allgemeinen gleichen Wahlen 
hervorgegangenes Parlament bei der Besteuerung der Bevölkerung andere 
Gesichtspunkte in den Vordergrund stellen würde, als wie es jetzt geschieht. 
Er wies darauf hin, daß die Zahl der Millionäre im Wachsen begriffen 
sei und sie deshalb auch größere Lasten tragen könnten, als sie ihnen die 
jetzige Steuergesetzgebung auferlege. Das ist ein vollkommen unrichtiger 
Gesichtspunkt. Nicht nur die Millionäre sind an Zahl und Größe ihres 
Einkommens gewachsen, sondern die Zahl der Zensiten wächst in allen 
Kreisen, in erfreulicher Weise hebt sich der Wohlstand, und wenn die Mil- 
lionäre auch anwachsen, so liegen darin gewisse wirtschaftliche Vorteile auch 
für das große Ganze. Ganz einseitig waren die Aeußerungen des sozial- 
demokratischen Redners über die Rückwirkung auf die Besteuerung. Wenn 
man bedenkt, daß hohe Kommunalsteuern vermögende Personen mehr und 
mehr anreizen, in billige Orte, namentlich auch nach Berlin, zu ziehen, 
so führt das doch zu einer sehr bedenklichen Agglomeration der Bevölke- 
rung. (Zustimmung links.) Neulich noch klagte mir der Bürgermeister 
einer größeren Stadt, daß die Provinzstädte durch die Häáufung der kom- 
munalen Steuer auf die Einkommensteuer mehr und mehr von großen 
Steuerzahlern entvölkert werden. (Sehr richtig!) Die Rede des Herrn 
v. Richthofen hat innerhalb und außerhalb des Hauses gerechte Verwunde- 
rung erregt. Man hat fie allgemein aufgefaßt als einen Rücktritt der 
konservativen Partei vom Block und als einen doch recht scharfen und wohl. 
überlegten Vorstoß gegen den leitenden Staatsmann. Es war ein scharfer, 
wohl überlegter Vorstoß gegenüber dem leitenden Staatsmann, und wir 
müssen ja annehmen, daß Herr v. Richthofen im Namen seiner ganzen 
Fraktion gesprochen hat. 
Nun berief sich Herr v. Richthofen darauf, daß die rheinischen 
Liberalen gewissermaßen die Bäter des geltenden Wahlrechis seien, er 
berief sich auf hervorragende Gelehrte, wie Gneist, Sybel u. a., aber be- 
denkt er denn gar nicht, daß, seitdem diese Männer sich für das geltende 
System aussprachen, viele Beränderungen eingetreten sind, die an unserer 
Bevolkerung doch nicht spurlos vorübergingen? (Frhr. v. Richthofen. Ironss# 
Nein!) Ist das ganze Gebäude unseres Wahlrechts nicht durchaus morsch 
geworden? (Widerspruch rechts.) Wenn Sie das verkennen, so sehe ich 
auch darin nur den Ausdruck Ihres Parteiegoismus. (Rufe rechts: Hho! 
Abg. Hirsch (Soz.]: Das richtige WortI!) Was Sie nicht sehen wollen, ist, 
daß das ganze System zerstört und durchbrochen ist durch die Drittelung 
in den Urwahlbezirken. (Beifall links.) Ein System, das sich nach der 
Steuerleistung aufbauen soll und in ein und demselben Bezirk den Wäh- 
lern mit geringerem Einkommen einen höheren Einfluß auf das Wahlrecht
	        
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