Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Neunundzwanzigster Jahrgang. 1913. (54)

Rußland. (April 11.—23.) 615 
kaiserliche Regierung verliert nicht die Hoffnung, daß Montenegro seine 
hartnäckigen Bemühungen einstellen wird, da sie der Ansicht ist, daß der 
Eigenliebe Montenegros vollkommen Genüge getan ist, wenn es sich dem 
Willen Europas unterwirft, da dieser sich auf seine so imponierende Ent- 
faltung der Flottenstreitkräfte stützt. In diesem Falle würde Europa Mittel 
finden, die Lage des montenegrinischen Volkes zu erleichtern, das schwer 
zu tragen hat an den durch die Belagerung Skutaris geforderten über- 
mäßigen Opfern. Die russische Regierung kann nicht von ihrem Stand- 
punkt abgehen, daß ihre Verantwortung vor dem russischen Volke in erster 
Linie die Pflicht in sich schließe, kein russisches Blut zu vergießen, wenn 
es nicht die Interessen des Vaterlandes fordern. Die sflawische und ortho- 
doxe Großmacht Rußland sparte niemals mit Hilfe und Opfern für ihre 
slawischen Brüder, aber diese letzteren haben auch die Pflicht, welche übrigens 
unsere Presse ihnen nicht immer im Gedächtnis zu halten weiß, die Rat- 
schläge zu respektieren, mit denen Rußland keinen Mißbrauch treibt, und 
sich zu erinnern, daß, wenn wir auch stolz auf ihre Erfolge sind, diese doch 
nicht hätten erreicht werden können ohne Rußland, welches ihnen das 
Leben gab und welches ihnen sowohl in der Freude wie im Schmerze 
noch immer nötig ist, besonders auch, um die Einigkeit unter ihnen auf- 
recht zu erhalten, ohne welche diese Völker keine Kraft noch Stärke ge- 
winnen können. Diese Beziehungen Rußlands zu den slawischen Völkern 
schließen jede Feindseligkeit gegenüber den anderen Staaten und Völkern 
aus. Die Verschiedenheit der Rassen braucht durchaus nicht zu einem 
Gegensatz unter den Rassen zu führen. Man kann nicht gut zugeben, daß 
die Sache des Friedens dabei gewinnen würde, wenn man eine Rasse einer 
anderen, welche ihres Rechtes bewußt ist, entgegenstellte. Die innere Kraft 
Rußlands hat es nicht nötig, von Besorgnissen zu Drohungen überzugehen, 
welche nicht der Ausdruck der Stärke eines Volkes sein würden.“ 
11. April. (Petersburg.) Die Presse über das Communiq#é 
zur Balkanfrage. 
„Rußkoje Molwa“, das Organ der Progressisten meint, die Erklä- 
rung sei voller Unklarheiten und innerer Widersprüche. Am wichtigsten 
sei der Frontwechsel gegen den bisher protegierten König Nikolaus. Der 
nationalistische „Swiet“ nennt die Erklärungen schmachvoll und beleidigend. 
Die wichtigste Frage, nämlich woher die Mächte das Recht zur Ein- 
mischung in die Kriegführung nehmen, werde gar nicht berührt. Große 
Bedeutung mißt die „Rietsch“ den schwerwiegenden Erklärungen gegen 
Nikita bei, dem keine andere Wahl bleibe, als sofort den Widerstand gegen 
den Willen Europas aufzugeben, wenn er noch finanzielle oder territoriale 
Entschädigungen wünsche. Die Wendung in der Erklärung, die die Rassen- 
gegensätze ablehnt, sei nicht gegen den Reichskan zler v. Bethmann Hollweg 
gerichtet, dessen Rede hier zunächst ungenau bekannt wurde, sondern gegen 
die Slawophilen. „Nowoje Wremja“ rühmt die Offenheit der Kanzlerrede 
und meint, Deutschland opfere seine Interessen Oesterreich, wo die Slawen 
immer stärker werden, so daß die deutschen Staatsmänner den erwarteten 
Lohn der Bündnistreue nicht erhalten werden. 
18. April. Staatssekretär für Finnland wird der Senator 
und Generalleutnant Wladimir Markow. 
23. April. (Petersburg.) Kundgebung über den Fall von 
Skutari. 
Nach einem kurzen Dankgottesdienst in der Preobrashinski-Kathedrale, 
woran zahlreiche Offiziere teilnahmen, zog die Mehrzahl der Anwesenden
	        
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