Die ssterreichischungarische Menarchie und die Nachfolgestaaten. (Okt.31.—Nov. 1.) 97
Nation wenden. Mitbürger! Wir glauben, daß die befreite Lebenskraft
unser gequältes Vaterland einer schöneren, besseren und glücklicheren Zukunft
entgegenführen wird. Daß sich dies so gestalte, hängt in erster Reihe von
dem Volke Budapests ab. Denn die große Bedingung hierfür ist, daß die
gesetzliche Ordnung rasch wiederhergestellt werde, sowohl in der Hauptstadt
wie in der Provinz. Um Ruhe, Geduld und Vertrauen bittet die erste
ung. Volksregierung das Volk Ungarns.
Am 1. Nov. beschließt die ung. Regierung, ohne auf die von seiten
des österr.-ungar. Oberkommandos eingeleiteten Waffenstillstandsverhand-
lungen Rücksicht zu nehmen, die völlige Waffenstreckung und fordert die
ung. Truppen auf, sofort die Waffen niederzulegen und nach Hause zurück-
zukehren. Gleichzeitig erklärt Ministerpräsident Karolyi, Ungarn sei vom
1. Nov. an ein neutraler Staat.
Das AK. erhebt gegen den Beschluß der Waffenstreckung, dessen
Durchführung den völligen Zusammenbruch der ital. Front verursacht, ver-
gebens Einspruch.
Ueber die Gründe für dieses Vorgehen teilt Kultusminister Lovaszy
am 3. Nov. Vertretern der Budapester Presse mit, die Regierung habe klar
gesehen, daß die Entente mit den schweren Bedingungen, die sie gestellt,
die Monarchie kampfunfähig machen wolle; deshalb habe die Regierung
es für das richtigste gehalten, keine halbe Arbeit zu verrichten, sondern mit
der Tatsache der Waffenstreckung einen Beweis dafür zu liefern, daß Un-
garn nicht mehr kämpfen wolle. Die ung. Regierung erhoffe vom Schritte
der Waffenstreckung eine günstige politische Wirkung und eine wesentliche
Besserung der internationalen Lage Ungarns.
Der Umstand, daß in der Proklamation des Ministerrats die Frage
der Staatsform nicht berührt ist, erweckt bei den soz. gesinnten Klassen,
die die Republik fordern, großen Unwillen. Die Regierung sieht sich noch
am 1. Nov. genötigt, der Volksstimmung Rechnung zu tragen, indem sie
an den König das (sofort gewährte) Ansuchen stellt, sie von ihrem Eide zu
entbinden, und in ihr Programm die Frage der Staatsform aufnimmt.
Am Abend verliest Minister Kunfi in einer Vollversammlung des
Nationalrats folgende von der Regierung und dem Vollzugsausschuß
des Nationalrats einstimmig angenommene Entschließung: Die Regierung
hat auf Grund der in den breitesten Massen des Volkes geäußerten republik.
Gesinnung die Aufnahme der Frage in das Programm der Regierung be-
schlossen, welche Staatsform Ungarn haben solle, die Monarchie oder die
Republik. Die Entscheidung über diese Frage vertraut die Regierung der
Verfassunggebenden Versammlung an, welche auf der Grundlage des all-
gemeinen, gleichen, geheimen, sich auch auf die Frauen erstreckenden Wahl-
rechts binnen kürzster Zeit, höchstens in sechs Wochen, zusammentreten
wird. Die Inkraftsetzung dieses Wahlrechts wird die Regierung, wenn mög-
lich unter Einhaltung der gesetzlichen Formen, wenn dies aber auf Hinder-
nisse stoßen sollte, auch mit anderen geeigneten Mitteln sichern. Sie wird
dafür Sorge tragen, daß das Wahlrecht, auf Grund dessen die Verfassung-
gebende Versammlung zusammentritt, entweder durch Abstimmung im Hause
oder durch Oktroi binnen einigen Tagen von dem Willen des Volkes aus
zum Gesetz erhoben werde. Wir konnten nur diesen Standpunkt einnehmen,
weil über die schicksalsschwere Frage der Staatsform nur das ganze ung.
Volk und die Nation zu entscheiden berechtigt ist.
Hierauf leisten die Minister den Eid in die Hand des Vorsitzenden
des Nationalrats Hock, der an Stelle Karolyis zum Vorsitzenden gewählt
wurde. — Am 2. leistet Erzherzog Joseph mit seinem Sohne Joseph
Franz vor dem Nationalrat den Treueid.
Europäischer Geschichtskalender. LlX:. 7