Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

104 Bie ssterreichisc-ungarische Monarchie und die Machfeolgestasten. (Nov. 11. 12.) 
gut, soweit es sich auf dem Staatsgebiet der Republik Deutschösterreich 
befindet, als Treuhänder aller beteiligten Nationen zu verwalten. Art. 5. 
Alle Gesetze und Gesetzesbestimmungen, durch die dem Kaiser und den Mit- 
gliedern des kaiserlichen Hauses Vorrechte zugestanden werden, sind auf- 
gehoben. Art. 6. Die Beamten, Offiziere und Soldaten sind des dem Kaiser 
geleisteten Treueides entbunden. Art. 7. Die Uebernahme der Krongüter 
wird durch ein Gesetz durchgeführt. Art. 8. Alle politischen Vorrechte sind 
aufgehoben, die Delegationen, das Herrenhaus und die bisherigen Land- 
tage abgeschafft. Art. 9. Die konstituierende Nationalversammlung wird im 
Jan. 1919 gewählt. Die Wahlordnung wird noch von der Prov. National- 
versammlung beschlossen. Sie beruht auf der Verhältniswahl und auf dem 
allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Stimmrecht aller Staatsbürger 
ohne Unterschied des Geschlechtes. Art. 10. Nach den gleichen Grundsätzen 
ist das Wahlrecht und das Wahlverfahren der Landes-, Kreis-, Bezirks- 
und Gemeindevertretungen zu ordnen. Die Gemeindewahlordnung wird 
noch durch die Prov. Nationalversammlung festgesetzt. Die Neuwahl der 
Gemeindevertretungen erfolgt binnen dreier Monate. Bis zur Neuwahl 
sind die bestehenden Gemeindevertretungen nach den Anleitungen des Staats- 
rates durch eine angemessene Zahl von Vertretern der Arbeiterschaft zu 
ergänzen. Art. 11. Dieses Gesetz tritt mit dem Tage seiner Kundmachung 
in Kraft. gez. Dinghofer, Hauser, Seitz, Präsidenten. Sylvester, Staats- 
notar; Renner, Staatskanzler. 
11. Nov. (Ungarn.) Graf Karolyi an Wilson. 
Ministerpräsident Graf Karolyi richtet als Antwort auf den Appell 
Wilsons an die Völker Oesterreich--Ungarns (s. S. 101 f.) ein Funkentelegramm 
an Präsident Wilson, worin es heißt: Ich bitte Sie, darauf hinzuwirken, 
daß unsere junge Demokratie nirgends durch eine unmenschliche Handlung 
oder durch einen gewalttätigen Mißbrauch bedroht wird. Dies würde der 
Seele unseres Volkes eine unbarmherzige Wunde schlagen und die Gestal- 
tung des reinen Pazifismus und die Verständigung zwischen den Völkern 
unmöglich machen, ohne welche niemals Friede und Ruhe auf dieser Welt 
sein werden. Gestatten Sie nicht, daß eine neue gewalttätige Unterdrückung 
oder Demütigung der Völker im Gegensatze zu Ihren Ideen hier überall 
den Gedanken zur Revanche säe. Das neue Ungarn überläßt mit Vertrauen 
seine Sache dem Areopag der Welt. 
12. Nov. (Deutschböhmen.) Kundgebung an Wilson. 
Die Landesregierung für Deutschböhmen in Reichenberg richtet 
an den Präsidenten Wilson durch schwedische Vermittlung eine Kabel- 
depesche, in der sie sich auf das Selbstbestimmungsrecht beruft, und mit 
der Erklärung, daß die Deutschen in Böhmen sich als Bestandteil der freien 
deutschen Republik betrachten, schärfsten Widerspruch gegen die Vergewalti- 
gungen durch die Truppen des tschecho-slowak. Staates erhebt. 
12. Nov. (Deutschösterreich.) Prov. Nationalversammlung: 
Proklamierung der Republik, Anschluß an Deutschland. 
Nachdem Präsident Dr. Dinghofer dem verstorbenen Staatssekretär 
Dr. Viktor Adler einen Nachruf gewidmet hat, beginnt das Haus die Be- 
ratung des den ersten Punkt der Tagesordnung bildenden Gesetzes über die 
Staats- und Regierungsform Deutschösterreichs (s. o.). Auf Vor- 
schlag des Präsidenten wird die Vorlage ohne Zuweisung an einen Aus- 
schuß in Verhandlung genommen. 
In der Begründung der Vorlage erklärt Staatskanzler Dr. Renner, 
der Entwurf sei eine Folge der Beschlüsse der konst. Nationalversammlung
	        
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