Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

144 Großbritannien. (Jan. 5.) 
berauben. Es ist offensichtlich, daß fast jeder Plan der Eroberung und An- 
nektierung innerhalb der wörtlichen Auslegung einer solchen Verpflichtung aus- 
geführt werden könnte. Es ist unmöglich, daß ein dauernder Friede auf 
einer solchen Grundlage aufgebaut werden kann. Klingende Worte allein 
über die Formel „keine Annexionen und keine Entschädigungen“ oder über 
das Recht auf Selbstbestimmung sind zwecklos. 
Bevor irgendwelche Verhandlungen überhaupt begonnen werden können, 
müssen sich die Mittelmächte der wesentlichen Tatsachen der Lage bewußt 
werden. Wir können die Zukunft der Zidvilisation nicht länger der eigen- 
mächtigen (arbitrary) Entscheidung einiger Unterhändler, die trachten, durch 
Ränke oder Ueberredung die Interessen dieser oder jener Dynastie oder dieses 
oder jenes Volkes zu sichern, unterwerfen. Die Einrichtung des neuen 
Europas muß auf solchen Grundlagen von Vernunft und Gerechtigkeit auf- 
gebaut sein, die allein Dauerhaftigkeit versprechen. Darum ist es unsere 
Ansicht, daß die Zustimmung der Regierten die Grundlage jeder Regelung 
von Gebietsfragen in diesem Kriege sein muß. Und aus diesem Grund ist 
es offensichtlich, daß, wofern nicht Verträge aufrechterhalten werden und jede 
Nation bereit ist, jedwedes Opfer zu bringen, um ihre Unterschrift unter 
solchen Verträgen in Ehren zu halten, kein Friedensvertrag das Papier, 
auf dem er geschrieben ist, wert ist. 
Die ersten Forderungen, die daher die britische Regierung und ihre 
Verbündeten immer vorangestellt haben, sind die vollständige Wieder- 
aufrichtung Belgiens und eine möglichst weitgehende Entschädigung für 
seine verwüsteten Städte und Provinzen. Dies ist nicht die Forderung einer 
Kriegsentschädigung, wie sie Deutschland im Jahre 1871 auferlegt hat. 
Es ist auch kein Versuch, die Kosten der Kriegshandlungen von einem Krieg- 
führenden auf den anderen zu schieben. Es ist nicht mehr und nicht weniger 
als das feste Bestehen darauf, daß, bevor es irgendeine Hoffnung auf einen 
dauerhaften Frieden geben kann, dieser große Bruch des öffentlichen euro- 
päischen Rechtes seine Zurückweisung erfahren und soweit als möglich gut- 
gemacht werden muß. Wiedergutmachen bedeutet Anerkennung. Solange 
das internationale Recht nicht durch das Beharren auf Ersatz des Schadens 
anerkannt ist, der in Nichtachtung seiner Grundlagen zugefügt wurde, kann 
es niemals Wirklichkeit sein. Als nächstes kommt die Wiederherstellung 
Serbiens, Montenegros sowie der besetzten Teile Frankreichs, Italiens und 
Rumäniens, vollständige Zurückziehung der feindlichen Armeen in Betracht. 
Wiedergutmachung von Unrecht ist die grundlegende Bedingung für einen 
dauernden Frieden. Wir wollen bis zum Untergange an der Seite der franzö- 
sischen Demokratie in deren Verlangen auf Wiedererwägung (reconsideration) 
des großen Unrechtes von 1871 stehen, als ohne Rücksicht auf die Wünsche der 
Bevölkerung zwei franz. Provinzen aus Frankreich herausgerissen und dem 
Deutschen Reiche während eines halben Jahrhunderts einverleibt wurden. 
Solange dies nicht geheilt ist, können gesunde Zustände nicht wieder ein- 
treten. Es kann keine bessere Illustration der Bösartigkeit geben, einen 
vorübergehenden militärischen Erfolg zu benützen, um ein nationales Recht 
zu vergewaltigen. 
Ich will nicht versuchen, die Frage der russischen Gebiete, die jetzt 
von den Deutschen besetzt sind, zu behandeln. Die russische Politik ist 
seit der russischen Revolution durch so viele Phasen und so schnell gelaufen, 
daß es schwierig ist, ohne Reserve das Urteil darüber zu sprechen, welches 
die Lage sein wird, wenn die endgültigen Bedingungen des europäischen 
Friedens besprochen werden. Rußland hat den Krieg mit all seinen Schrecken 
hingenommen, weil es getreu seiner Ueberlieferung als Schützer der schwächeren 
stammesgleichen Rassen in den Krieg eintrat, um Serbien vor einem An-
	        
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