Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

260 Frankreich. (Mai 15.) 
feststellt, in dem Branting im „Socialdemokraten“ dartut, daß die alte 
deutsche soz. Partei sich infolge ihrer am 11. April im „Vorwärts"“ ab- 
gegebenen Erklärung selbst von der Internationale ausgeschlossen habe. 
Das Manifest nimmt das Geständnis dieser Partei, die sich endlich an der 
großen Unternehmung der pangermanistischen Herrschaft mitschuldig bekennt, 
zur Kenntnis. Nun ist, sagt das Manifest, blendende Klarheit geschaffen. 
Aber es wird der Vormarsch der deutschen Heere nötig gewesen sein, es 
wird nötig gewesen sein, daß der Glaube an eine nahe und unbedingte 
Entscheidung durch Gewalt die alte Partei auf jeden falschen Schein ver- 
zichten ließ, um endlich die Rolle begreifen zu dürfen, die sie seit nun- 
mehr bald vier Jahren spielt. Das Manifest stellt fest, daß das Bekenntnis 
des Anschlusses dieser Partei an die kaiserliche Regierung in der am 4. Aug. 
zutage getretenen Politik enthalten gewesen sei. Von jenem Zeitpunkt an 
war die Partei dem Sozialismus und der internationalen Solidarität 
fahnenflüchtig geworden. 
Diese von der Gruppe Varenne veröffentlichte Kundgebung betr. den 
Ausschluß der deutschen Soz. aus der Internationale stößt jedoch auf Wider- 
spruch bei den anderen franz. sozialistischen Gruppen. So nimmt die Föde- 
ration des Nord-Departements (am 14.) eine diese Kundgebung tadelnde 
Tagesordnung an. Der geschäftsführende Ausschuß der sozialistischen Partei 
nimmt eine Tagesordnung an, die sich jenem Tadel anschließt. 
Am 11. April hat der „Vorwärts“" einen „Gewalt und Vernunft“ 
betitelten Leitartikel veröffentlicht, in dem sich folgende Sätze finden: Aus 
der von uns (d. h. den Soz.) bekämpften Politik (der deutschen Regierung) 
hat sich die Situation ergeben, in der wir uns befinden. Aus ihr ergibt 
sich allerdings kein anderer Ausweg als jener der Gewalt. Man hat uns 
versprochen, daß man uns diesen Weg mit Erfolg zu Ende führen wird 
und hat uns gesagt, daß das Ende nahe sei. Wir haben das, weil sich in 
diesem Augenblick keine andere Möglichkeit zeigt, angenommen und uns zur 
Mitwirkung an dem Versuch bereit erklärt, die Friedenshoffnungen des 
Volkes auf dem allein offen gebliebenen Wege zu verwirklichen. Wir mar- 
schieren mit, wir zahlen mit, wir hoffen mit, stellen aber fest, daß die Ver- 
antwortung für das Gelingen bei denen liegt, welche die Führung des 
Reiches tatsächlich übernommen haben. 
15. Mai. (Paris.) Urteil im „Bonnet Rouge“-Prozeß. 
Im Prozeß „Bonnet Nouge“ vor dem dritten Kriegsgericht des Seine- 
departements wird Duval zum Tode verurteilt, Marion zu 10, Landau 
zu 8 und Goldsky ebenfalls zu 8 Jahren Zwangsarbeit, verbunden mit 
militärischer Degradation, serner Joucla zu 5 Jahren Zwangsarbeit, Ley- 
marie zu 2 Jahren Gefängnis und 1000 Fr. und Vercasson zu 2 Jahren 
Gefängnis und 5000 Fr. Geldstrafe, letzterer unter Bewilligung von Straf- 
aufschub. Aus dem Zeugenverhör sind von besonderem Interesse die Aus- 
sagen des früheren Ministerpräsidenten Caillaux (am 14), der erklärt, 
er habe vor dem Kriege eine Stütze in der Presse suchen müssen, um seine 
Ehre und die der Seinigen zu verteidigen, und daher das Blatt einmal mit 
40000 Fr. unterstützt. Seit Ausbruch des Krieges hätten Beziehungen zum 
Blatt nicht mehr bestanden. Duval, ehem. Verwalter der Zeitung „Bonnet 
Rouge“, die „defaitistische“ Propaganda betrieb, war des Einverständnisses 
mit dem Feinde bezichtigt worden (s. Gesch Kal. 1917, Tl. 2 S. 434 f.). Die 
anderen Verurteilten sollen seine Komplizen gewesen sein. Leymarie, früher 
Kabinettschef des Ministers Malvy, hatte Duval einen Paß nach der 
Schweiz besorgt. Der Prozeß ist eine weitere Etappe des von Clemenceau 
gegen angebliche Friedensfreunde geführten Feldzuges.
	        
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