Fraukreiq. (Dez. 11.) 291
plötzlich auf diese Kundgebungen und behauptet, die (bisher abgelehnte)
Volksabstimmung sei hiermit vollzogen. Dem muß nachdrücklichst wider-
sprochen und dieses heuchlerische Gebaren muß entlarvt werden. Die Be-
grüßungen in Metz und Straßburg z. B. erfolgten nicht durch vom Volk
gewählte Städtevertreter, sondern von Bürgermeistern, die von den franz.
Präfekten wenige Tage vorher erst eingesetzt worden waren. Die Erklärung
des els.-lothr. Nationalrats beruft sich vergebens auf dessen Wahl nach dem
allgemeinen Wahlrecht. Das Volk hatte 1911 einen Landtag, keinen aus
diesem herausgesiebten Nationalrat gewählt, und es hatte diesem Landtag
am Ende eines längeren Wahlkampfes mit klarer Entscheidung gegen die
Wortführer von heute den Auftrag gegeben, für die Autonomie im Rahmen
des Deutschen Reiches einzutreten. Niemals hat das Volk durch neue all-
gemeine Wahlen diesen Auftrag widerrufen. Wenn heute viele Abgeordnete
in Verbeugung vor der Macht und in Sorge um ihre persönlichen Interessen,
zum Teil auch aus Verärgerung, den Anschluß an Frankreich begrüßen
(alle sind es nicht), so können sie sich also auf keine Willenskundgebung des
Volkes berufen. Sollte ihre Erklärung die von der französischen Regierung
gewünschte und behauptete Beweiskraft haben, so müßten, wie 1870/71, erst
Neuwahlen stattfinden.
11. Dez. (Tammer.) Bericht über Elsaß-Lothringen, Demobil-
machung der älteren Jahrgänge, Verbandspolitik gegen Rußland.
Präsident Deschanel erstattet Bericht über den Triumphzug der Ver-
treter Frankreichs in Elsaß-Lothringen (s. o.), dessen Bevölkerung nun-
mehr für immer zu Frankreich gehöre wie Frankreich zu ihm. — Minister-
präsident Clemenceau schließt sich den Worten des Präsidenten an und
erklärt, daß das in den letzten Tagen Erlebte alles übertreffe, was die Ge-
schichte Frankreichs an Großem und Edlem aufweise. Er zollt der Gesinnungs-
treue der Bevölkerung von Elsaß-Lothringen, die 50 Jahre lang die schwersten
Opfer ertragen und den Verfolgungen mutig Widerstand geleistet habe, hohes
Lob und sagt, daß die Befreiung dieses Landes der schönste Lohn sei, den
die großen Opfer Frankreichs verdient haben.
Die Kammer beschließt, die Reden Deschanels und Clemenceaus öffent-
lich anschlagen zu lassen.
Sodann bringt Abg. Dalbiez (Linksrad.), von den Soz. geschlossen
unterstützt, eine Interpellation betr. Freilassung der alten Jahrgänge
ein. — Unterstaatssekretär Deschamps gibt bekannt, daß vom 26. Dez. bis
5. Febr. ein großer Teil der Territorialreserve, zusammen 900000 Mann,
entlassen werden soll. Er fügt hinzu, daß die Regierung die Interpellation
nicht annehme, und stellt die Vertrauensfrage; man könne nicht schneller
demobilisieren, da sonst die Transportmittel überlastet würden. Die Sozialisten
erheben lebhaften Einspruch und erklären, eine Vertagung ohne Festsetzung
des Zeitpunktes sei unzulässig. Unter großer Bewegung wird indes die
Interpellation mit 335 gegen 160 Stimmen vertagt. — Die soz. Abgg. Cachin,
Lafont und Alexandre Blanc bringen sodann ihre Interpellation über
die Verbandspolitik gegen Rußland zur Sprache. — Pichon lehnt
jede Erörterung der Interpellation ab, da sie ein Gebiet berühre, über das
zurzeit mit den übrigen Verbandsmächten verhandelt werde. Er verlangt
die Vertagung und stellt ebenfalls die Vertrauensfrage. Unter dem Beifall
aller Sozialisten erklärt Abg. Blanc, die Expedition nach Rußland sei eine
glatte Verleugnung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die franz.
Republik dürfe sich nicht die Formel „Gewalt geht vor Recht“ zu eigen machen. —
Abg. Cachin erklärt, seit vier Jahren habe die Regierung das Parlament
und seine Ausschüsse vollkommen im unklaren über die auswärtige Politik
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