Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Stalien. (Febr. 12.—23.) 301 
einzugehen. O.charakterisiert das Ergebnis von Brest-Litowsk als einfache 
Uebergabe der in Rußland zur Herrschaft gekommenen Partei und zieht 
daraus die Folgerung, daß das Streben nach Frieden um jeden Preis zu 
einem schlechten Frieden führe. Die Reden des Reichskanzlers (s. Tl. 1 
S. 19 ff.) und des Grafen Czernin (s. S. 6 ff.), die bei der letzten Entente- 
zusammenkunft (s. S. 244 f.) eingehend besprochen worden seien, hätten trotz 
ihrer sonstigen Verschiedenheit die Forderungen der Alliierten übereinstim- 
mend zurückgewiesen, sie „forderten alles und gewährten nichts“; daher 
habe man es für überflüssig, ja schädlich angesehen, sich bei solchen gegen- 
standslosen Erwägungen aufzuhalten. Man müsse den Krieg mit aller Kraft 
fortsetzen, und Italien müsse seine Kriegsziele nach den Erfahrungen dieses 
Krieges noch bestimmter als vorher aufrecht erhalten, nämlich die Vereinigung 
aller Italiener und die Erlangung gesicherter Land= und Seegrenzen. Italien 
stehe vor der Frage „zu sein oder nicht zu sein“; es sei also eine Be- 
leidigung, ihm ein Streben nach Vorherrschaft oder Unterdrückung anderer 
Völker unterzuschieben. O. betont vielmehr sein und Italiens Mitgefühl für 
unterdrückte Nationalitäten (bezieht sich vor allem auf die österr. Süd- 
slawen) angesichts des quälenden Gedankens an die Leiden der eigenen 
Volksgenossen. Solange Italiens Ziel nicht erreicht sei, müsse der Krieg 
weitergehen; der Feind sei also an seiner Verlängerung ebenso wie an 
seinem Ausbruche schuldig. Hiernach und gemäß Rußlands Versagen habe 
der Oberkriegsrat der Alliierten seine Entschlüsse gefaßt. Die Lage in Nord- 
osteuropa ermangele nach Meinung der Entente bis zur Anerkennung sich 
etwa neu bildender Staaten jeder rechtlichen Grundlage. Schon der Kriegs- 
rat in Versailles habe festgestellt, daß die Westfront infolge der Ereignisse 
im Osten auf sich allein angewiesen sein und die ganze Last des Krieges 
zu tragen haben werde; trotzdem könne man mit Vertrauen in die Zukunft 
sehen. O. wirft einen hoffnungsvollen Blick auf Amerikas Hilfe und einen 
vorwurfsvollen auf die militärischen Fehler der Entente in der Vergangen- 
heit, besonders infolge Mangels an Zusammenwirken, das jetzt aber ge- 
sichert sei. Die außerordentlich schwierigen Lebensmittelfragen würden von 
den Alliierten in herzlichem Einvernehmen geregelt; Italien litte am 
schlimmsten darunter, sei aber von den Alliierten unterstützt worden und 
hoffe auf eine befriedigende Lösung der Schwierigkeit. — Die gleiche Er- 
klärung gibt Orlando im Senat ab. 
Am 13. beginnt die Aussprache über die Regierungserklärung. 
Dabei verliest Abg. Bevione (Nat.) den Text des Londoner Vertrages 
v. 26. April 1915, der im Ausland bereits in vollem Umfang durch die 
Veröffentlichung der Maximalisten (s. GeschKal. 1915 S. 1387 ff.) bekannt 
geworden ist. 
Am 14. kommt es während einer Rede des Abg. Generallt. Marazzi 
(Mitglied der Parlam. Vereinigung), der das System Cadorna angreift, zu 
heftigen Szenen. M. schildert, welchen Anteil die Heeresleitung und die 
Regierung, jede für ihren Teil und in ihrem mangelhaft geregelten Ver- 
hältnisse, an Italiens Niederlage gehabt haben, und sucht zu beweisen, daß 
die Karfreiter Niederlage eine Folgeerscheinung der ital. Operationen auf 
Bainsizza und gegen die Hermada gewesen sei und daß übrigens der feind- 
liche Durchbruch bei Karfreit sehr wohl hätte eingedämmt werden können, 
ohne daß ein Gesamtrückzug nötig gewesen wäre. Die diesbezüglich an- 
geordnete Untersuchung müsse einen mehr parlamentarischen Charakter haben 
und auf die Tatsachen ausgedehnt werden bis vor und unmittelbar nach 
der Kriegserklärung. — Ministerpräsident Orlando erwidert: Die Unter- 
suchung wird sich auf alle Faktoren der Karfreiter Niederlage ausdehnen, 
aber wir können nicht erlauben — und Sie als General müßten den Grund
	        
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