Stalien. (Juni 12.—16.) 311
ordnung der ital. Kammer nach dem Vorbilde der franz. Kammer abzuändern
und Kontrollkommissionen einzurichten, die dem Parlament ermöglichen, die
Wahrheit zu erfahren und auf die Politik Einfluß zu nehmen.
Ministerpräsident Orlando entgegnet, Modiglianis Kritik sei verfrüht,
denn seine vorausgegangenen Worte seien nicht alles, was er dem Parlament
über die politische Lage mitzuteilen gedenke. Im Rahmen der Verhandlung
des Budgetprovisoriums würden politische Fragen ausführlich zur Sprache
gebracht werden können. Modiglianis Berufung auf das franz. Beispiel
passe schlecht, denn die franz. Kammer habe gerade entsprechend dem Wunsche
Clemenceaus die Erörterung der Lage unterlassen, und die soz. Fraktion der
franz. Kammer habe gegen das Kommissionswesen protestiert, damit in offener
Kammer mehr erörtert werde.
Hiernach wird in die Verhandlung des sechsmonatigen Budgetprovi-
soriums eingetreten, für die 60 Redner vorgemerkt sind.
Am 13. spricht u. a. Abg. Labriola (U. Soz.): Der Verband müßte
standhalten, da die Konsolidierung des deutschen Sieges den Tod der Ver-
bandsmächte bedeuten würde. Im Grunde ständen jetzt zwei große Mächte
sich gegenüber, der deutsche Militarismus und der internationale Sozialismus.
Ein Sieg des deutschen Militarismus würde den Untergang des Sozialismus
bedeuten und könnte deshalb von den Sozialisten nur mit größter Sorge
ins Auge gefaßt werden. Das Schicksal des Verbandes sei noch nicht ver-
zweifelt, da drei Kräfte ihm noch zur Hilfe kommen könnten: Die skan-
dinavischen Staaten, der Zerfall Oesterreichs und die Auferstehung Rußlands.
Redner ermahnt die Regierung und insbesondere den Ministerpräsidenten,
nicht ihre liberale Vergangenheit zu verleugnen und die Verfolgung der
Sozialisten einzustellen. -
Schatzminister Nitti hält darauf ein Wirtschaftsexposs, aus dem sich
ergibt, daß die ital. Kriegskosten sich bis Ende Juni auf 46½ Milliarden
Lire belaufen und das Budgetjahr an diesem Datum mit einem durch An-
leihen nicht gedeckten Fehlbetrag von 8 Milliarden schließt. Nicht nur die rein
militärischen, sondern auch alle anderen Staatsausgaben seien im starken
Steigen begriffen. Die Versorgung der Flüchtlinge aus Venezien koste jetzt
monatlich 30 Mill. Lire. Die fünfte Kriegsanleihe habe einschließlich der
Konvertionen 6130 Mill. erbracht. Aus dem Ausland kamen 439 Mill.
N. wendet sich gegen die Kritik, die es getadelt hatte, daß der ital. Staat
die im ital. Besitz befindlichen russ. Staatspapiere in ital. Staatspapiere
umgetauscht habe und verweist auf das Beispiel Frankreichs. Es kamen für
380 Mill. Lire russ. Staatspapiere zum Umtausch. N. kommt dann auf
die allgemeine Wirtschaftslage zu sprechen und gibt zu, daß Italien sich
jetzt und auch in den ersten Friedensjahren in einer besonders schwierigen
Lage befinde, da es nur verhältnismäßig kleine Kolonien hat und auf die
Einfuhr der wichtigsten Rohstoffe angewiesen ist. Er ermahnt deshalb zur
äußersten Sparsamkeit und zur äußersten Anspannung aller produktiven
Kräfte, wie das auch durch die Tonnageschwierigkeiten gefordert werde.
Am 15. macht Ministerpräsident Orlando der Kammer von der in
der Nacht erfolgten österreichischen Offensive Mitteilung und stellt fest,
daß der solchen plötzlichen Unternehmungen eigene Anfangserfolg nicht in
dem gewohnten Umfange eingetreten sei und nur die erste Verteidigungs-
linie in Mitleidenschaft gezogen habe, und daß die Haltung der Armee
jedes Vertrauen rechtfertige.
Am 16. erklärt Abg. Turati (Soz.) namens der Soz., daß sie zwar
das prov. Budget nicht bewilligen könnten, weil das zu Mißverständnissen
führen würde, daß sie jedoch in dieser feierlichen und schweren Stunde keine
Opposition machen wollten. Sie hätten jetzt die gleichen Sorgen und Hoff-