Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

320 Stalien. (Nov. 20—27.) 
erunt. Das ital. Volk hat nach Verwirklichung seiner nationalen Aspirationen 
keinerlei imperialistische Ziele, denn dank der fruchtbaren Industrie und der 
Arbeit seiner Söhne wußte es und wird dies in Zukunft noch besser ver- 
stehen, friedlich den ehrenvollen Platz zu erringen, der ihm gebührt. Unsere 
wesentlich demokratischen Einrichtungen sind mit jeder Entwicklung und jeder 
Umänderung vereinbar. 
In der Debatte über die Regierungserklärung führt Abg. Turati 
(Soz.) am 21. aus, daß der Sozialismus in Deutschland, Oesterreich und 
Rußland gesiegt habe, weil er gegen die Kriegspolitik und den Krieg ge- 
wesen sei. Derselbe Sozialismus werde aber auch noch in Italien und in 
den anderen Verbandsländern siegen, und zwar in ruhiger Weise, falls 
man ihn nicht mit Gewalt zu bekämpfen und zu unterdrücken versuche. 
Deutschland sei nur dadurch besiegt worden, daß Amerika in den Krieg 
eingetreten sei und der Hunger die Bevölkerung Deutschlands zur Revolution 
getrieben habe. Seitdem Deutschland die alten Regierungsformen zertrümmert 
habe, dürfe Deutschland nicht mehr als Feind betrachtet werden, vielmehr 
werde die deutsche Revolution auch auf Italien übergreifen müssen. Im 
Namen seiner Partei verlangt T. das Selbstbestimmungsrecht für alle Völker, 
besonders für die von Italien geforderten Gebiete, und zwar auch für die 
Einwohner von Libyen. Bezüglich der inneren Politik beklagt T., daß das 
Parlament seine Rechte nicht ausüben könne, daß die Ausnahmegesetze weiter 
fortbestünden und daß die Zensur nicht abgeschafft sei. In großen Städten 
mißhandle man Abgeordnete, die gegen den Krieg gewesen, und man ver- 
hindere, daß Bürgermeister und Gemeindebeamte öffentlich zur Ruhe mahnten. 
Man verbreite unter den Frauen und in Kasernen das Gerücht, die Sol- 
daten können nicht nach Hause entlassen werden wegen der Sozialisten. 
Man steure in dieser Weise auf den Bürgerkrieg zu. Italien brauche eine 
schleunige Demobilisierung, die Abschaffung der Ausnahmsgesetze, Maßnahmen 
zugunsten der Arbeiter und Soldaten und durchgreifende politische und 
wirtschaftliche Refsormen. — Abg. Enrico Ferri (U. Soz.) erklärt, die Rede 
des Ministerpräsidenten entspreche nicht den berechtigten Erwartungen und 
entbehre insbesondere eines den Verhältnissen Italiens angepaßten Arbeits- 
programmes. Die Regierung müßte doch stutzig werden durch die im Lande 
vorgekommenen Unruhen und Vorfälle, die auch nach Abschluß des Waffen- 
stillstandes Erschießungen notwendig machen, wie dies unlängst in Bologna 
der Fall gewesen sei. Die Regierung habe wohl drei Milliarden für öffent- 
liche Arbeiten ausgesetzt, aber niemand wisse, woher sie genommen werden 
sollen, nachdem Italiens Staatsschuld auf 80 Milliarden angewachsen sei. 
Italien sei zum Uebergang in die Friedenswirtschaft trotz der hierzu be- 
stellten Kommission von 607 Mitgliedern nicht vorbereitet. Der Friede müßte 
so geschlossen werden, daß keine Spur von Irredentismus übrig bleibe. 
Am 23. führen Anschuldigungen des Abg. Centurione gegen So- 
zialisten und Giolittaner wegen Landesverrats zu stürmischen Auftritten. 
C. gibt zu, sich als Dienstmann verkleidet zu haben, um für die führende 
Kriegsgruppe die Wirksamkeit der Sozialisten und Giolittaner auszuspähen, 
und erklärt auf zahlreiche Zwischenrufe: Durch diese Nachforschungen habe 
ich den Beweis für die Verantwortung der sozialistischen Partei an der 
Niederlage von Caporetto (Okt. 1917) und den Turiner Unruhen (Aug. 1917) 
feststellen können. Mehrere Senatoren und Abgeordnete, darunter Giolitti, 
haben ihr Land verraten und beabsichtigen, es weiter zu verraten, indem 
sie es nach der Rückkehr der Truppen aus den eroberten Gebieten in eine 
Revolution zu verwickeln trachten. Auf heftige Einsprüche der Giolittaner 
zeigt C. einen gelben Umschlag, der die Beweise enthalte. Die verdächtigten 
Parteien verlangen, sofort festzustellen, ob sich unter den Abgeordneten
	        
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