Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

338 Sc#weiz. (Nov. 12.—14.) 
rat einen Aufruf an das Schweizer Volk, in dem es heißt: Wir haben uns 
überzeugt, daß sich gewisser Landesteile und namentlich der Stadt Zürich 
eine wachsende Beunruhigung bemächtigt hat. Wir sind fest entschlossen, 
die vornehmste unserer Pflichten zu erfüllen: Die Ordnung im Lande zu 
erhalten und die öffentliche Sicherheit zu schützen. Daher haben wir be- 
schlossen, vier Infanterieregimenter und vier Kavalleriebrigaden aufzubieten. 
Der Bundesrat appelliert an den Bürgersinn und die Selbstbeherrschung 
der Eidgenossen. Er erkennt die Notwendigkeit sozialer Reformen an, erklärt 
aber soziale Reformen und Revolution würden in der Schweiz unverein- 
bare Gegensätze bilden. 
12.—14. Nov. Landesgeneralstreik. 
Als Protest gegen die vom Bundesrat (s. 8. Nov.) getroffenen Sicher- 
heitsmaßnahmen, die als eine Provokation der Arbeiterschaft bezeichnet 
werden, beschließen das soz. Oltener Aktionskomitee, der Vorstand des 
schweiz. Gewerbebundes, der Vorstand der soz. schweiz. Partei und die soz. 
Nationalratsfraktion (am 10.) den allgemeinen schweiz. Generalstreik. 
In dem Aufrufe des Oltener Aktionskomitees wird die derzeitige Landes- 
regierung als unfähig bezeichnet, der Zeit und ihren Bedürfnissen 
gerecht zu werden. Die Behörden hätten das Recht verwirkt, im Namen 
des Volkes zu sprechen. Es sei deshalb die ungesäumte Umbildung der 
bestehenden Landesregierung zu verlangen. Die Regierung habe sich auf 
folgende Mindestforderungen zu verpflichten: Sofortige Neuwahlen 
des Nationalrates auf Grundlage des Proporzes; passives und aktives 
Frauenwahlrecht; Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht; Einführung 
der 48 Stunden-Woche in allen öffentlichen und privaten Unternehmungen; 
Organisation der Armee im Sinne des Volksheeres; Sicherung der Lebens- 
mittelversorgung im Einvernehmen mit den landwirtschaftlichen Produzenten; 
Arbeiter- und Invalidenversicherung; Staatsmonopol für Import und Export; 
Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden. Die mobilisierten Truppen 
werden aufgefordert, keine Waffengewalt gegen die Streikenden anzuwenden 
und Soldatenräte zu bilden. Die Staatsangestellten sollen der zwangs- 
weisen Mobilisierung durch die Verweigerung der Leistung von Streikbrecher- 
arbeiten entgegentreten. 
Demgegenüber erläßt der Bundesrat (am 11.) einen Aufruf an 
das Schweizer Volk, worin er die Militäraufgebote sowie die Unterstellung 
der staatlichen Angestellten unter die Militärgesetze begründet und den 
Willen kundgibt, jede Gewalttätigkeit zu verhindern. 
Der Landesgeneralstreik beginnt in der Nacht vom 11. auf den 12. 
Doch beteiligt sich nur ein Teil der Arbeiterschaft daran. Die Christlich- 
sozialen, Freisinnigen und ein Teil der staatlichen Arbeiter und Angestellten, 
besonders in der franz. und ital. Schweiz, halten sich vom Ausstand fern. 
Der Eisenbahnverkehr wird fast überall eingestellt. In den größeren 
Städten sind starke Militärabteilungen zur Aufrechterhaltung von Ordnung 
und Verkehr aufgeboten. In der bürgerlichen und ländlichen Bevölkerung 
macht sich eine starke Bewegung gegen den Generalstreik bemerkbar; auch 
in der Arbeiterschaft nimmt die Arbeitswilligkeit rasch wieder zu. Der 
Bundesrat stellt dem Oltener Aktionskomitee ein Ultimatum und droht für 
den Fall, daß der Streik am 14. nicht abgebrochen werde, schärfste Maß- 
nahmen, wie die Verhaftung der Führer, der Streikposten usw. an. Darauf- 
hin beschließt das Aktionskomitee (am 13.) den Generalstreik um Mitternacht 
des 14.115. abzubrechen. Am 15. früh wird in der ganzen Schweiz die 
Arbeit wieder ausgenommen. 
Gegen die Streikführer wird von den Militärgerichten Untersuchung ein- 
geleitet.