Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Bie öterreichisc-ungarische Mosarchie und die Nachfolzestaaten. (Juni 18.—21.) 37 
Durch Verfügung des Amtes für Volksernährung (vom 15.) wird in 
Wien die Brotration auf die Hälfte herabgesetzt. 
Diese Verfügung ruft in der gesamten Monarchie ungeheure Erregung 
hervor. Alle Blätter ohne Unterschied der Parteistellung nehmen schärfste 
Stellung gegen diese Maßnahme und fordern deren beschleunigte Be- 
seitigung und die Heranziehung Deutschlands und Ungarns zu augenblick- 
licher Hilfeleistung. 
In Wien ereignen sich schwere Straßenunruhen, die kriegsgegnerischen 
Charakter annehmen. Ein Teil der Arbeiter tritt in den Ausstand. Am 
21. kommt es zu Verhandlungen zwischen Regierung und Vertretern des 
Arbeiterrates, wobei erstere beruhigende Erklärungen abgibt. Bezüglich der 
Friedensfrage teilt der Minister des Ausw. Graf Burian einer soz. Ab- 
ordnung mit, daß die Regierung nach wie vor zu einem Verständigungs- 
frieden bereit sei. 
Um die Ernährungsschwierigkeiten zu mildern, erklärt sich die deutsche 
Regierung auf Ansuchen bereit, eine bestimmte Menge Getreide (nach der 
„Voss. Ztg.“ 5000 To.) vorschußweise Oesterreich zur Verfügung zu stellen. 
Auch aus Ungarn treffen außerordentliche Zufuhren ein. 
Am 18. wird eine Regierungsverordnung veröffentlicht, wodurch die 
Bewirtschaftung der neuen Ernte, ebenso wie im Deutschen Reiche und 
künftig auch in Ungarn, im Sinne einer straffen staatlichen Bewirtschaftung 
geregelt wird. 
18.—21. Juni. (Ung. Abg.-Haus.) Budgetprov., Bündnispolitik. 
Zu Beginn der Beratung des von der Regierung geforderten vier- 
monatigen Budgetprovisoriums bringt Abg. Graf Theodor Batthyany 
(Karolyip.) die jüngsten Aeußerungen des Vizekanzlers v. Payer über die 
politische und wirtschaftliche Vertiefung des Bündnisses mit dem Deutschen 
Reich (Unterredung mit dem Berliner Korr. der „Neuen Fr. Presse“ am 
8. Juni, s. „Voss. Ztg.“ vom 9.) zur Sprache und erklärt, daß infolge der 
solcherart von der kompetentesten Seite der deutschen Regierung erfolgten 
Aeußerungen es nunmehr eine dringende Aufgabe des ung. Abg.-Hauses 
sei, gegenüber den wirtschaftlichen und militärischen Vertragsverhandlungen 
Stellung zu nehmen. — Am 19. wendet sich Abg. Graf Tisza gegen die 
Agitation der Karolyipartei gegen die Bundespolitik der Monarchie und 
bezeichnet sie als gewissenlos, da durch diese Umtriebe die heiligsten Interessen 
des Vaterlandes aufs Spiel gesetzt würden. Bezüglich des Interviews in 
der „N. Fr. Pr.“ drückt T. sein Bedauern aus. Er erklärt, auf der prinzipiellen 
Grundlage des deutschen Bündnisses auch fernerhin zu verbleiben, betont 
jedoch, daß sich in dem genannten Interview solche vielleicht elastische Aus- 
drücke vorgefunden haben, die für ihn unannehmbar seien. Der Vize- 
kanzler möge seine Auffassung revidieren, wenn er das Bündnis mit Ungarn 
ernstlich wolle. Die Regierung aber habe die Aufgabe, in vertraulichen 
Verhandlungen in Berlin darzutun, daß die erwünschte wirtschaftliche An- 
näherung nur dann möglich sei, wenn die staatliche Integrität und die 
wirtschaftlichen Interessen Ungarns völlig gewahrt werden. — Minister- 
präsident Dr. Wekerle legt in seiner Erwiderung dar, daß die Regierung 
bei Erreichung aller dieser Ziele das Selbstverfügungsrecht und die 
Souveränität Ungarns nach jeder Richtung hin aufrecht erhalten wolle. 
Was die erwähnten Aeußerungen des deutschen Vizekanzlers betreffe, so 
habe er sie nicht in amtlicher Eigenschaft gemacht, sie seien nur als Aus- 
druck gewisser grundsätzlicher Anschauungen aufzufassen. — Abg. Graf 
Michael Karolyi erklärt, er sei Gegner einer Vertiefung des Bündnisses 
und werde sich nicht beirren lassen, weiter in diesem Sinne tätig zu sein.
	        
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