Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Rußland. (Jan. 20.) 411 
Sozialismus. So mußte diese V. V. die Krone der bürgerlichen Republik 
werden, indem sie sich der Richtungslinie der Oktoberrevolution und der 
Autorität der Sowjets entgegenstellt. Die Oktoberrevolution hatte, indem 
sie die Macht den Sowjets gab und durch sie den der Ausbeutung aus- 
gelieferten arbeitenden Klassen, den Widerstand der Ausbeuter hervorgerufen. 
Die arbeitenden Klassen sind zu der Ueberzeugung gelangt, daß die Zeit für 
den alten bürgerlichen Parlamentarismus um ist, da er mit den Aufgaben 
des Sozialismus unvereinbar ist, und daß nur eine Klasseneinrichtung wie 
die der Sowjets imstande ist, über die Opposition der reichen Klassen die 
Oberhand zu gewinnen und eine neue sozialistische Grundlage zu schaffen. 
Die Nichtanerkennung der Autorität der republikanischen Sowjets und die 
Ueberantwortung der errungenen Freiheit an die V. V. und das Bürgertum 
wäre ein Schritt nach rückwärts und der Bankerott der Arbeiter= und Bauern- 
revolution. In der am 18. Jan. eröffneten V. V. hatten aus den bekannten 
Gründen die Soz.-Rev. der Rechten, die Partei Kerenskis, Tschernows und 
Aksentiews, die Mehrheit. Begreiflicherweise hat diese Fraktion es abgelehnt, 
das klare und gerechte Programm des Hauptvollzugsausschusses in Beratung 
zu ziehen und die Verkündung der Rechte der Arbeiterklassen sowie die 
Oktoberrevolution und die Autorität der Sowjets anzuerkennen. So hat die 
V. V. das Band mit den republikanischen Sowjets Rußlands zerrissen. Der 
Austritt der Max. und der Soz.-Rev. der Linken, die eine bedeutende Mehr- 
heit in den Sowjets haben, war daher unvermeidlich. Da die Soz.-Rev. 
der Rechten offen die Antorität der Sowjets bekämpfen und den Widerstand 
der Ausbeuter tatsächlich unterstützen, ist es klar, daß der in der V. V. 
verbleibende Teil der Abg. nur der Konterrevolution der Bourgeoisie in 
ihrem Ziele, die Sowjets ihrer Macht zu entsetzen, Gefolgschaft leisten würde. 
Der Hauptvollzugsausschuß ordnet daher die Auflösung der V. V. an.“ 
Bereits vor dem Zusammentritt der Konstituante haben die maxi- 
malistischen Machthaber Vorkehrungen getroffen, um eine ihnen unbequeme 
Mehrheit zu beseitigen. So hat am 13. Jan. die „Petersb. Tel.-Ag." ge- 
meldet, daß der Hauptvollzugsausschuß der A.= u. S.-Räte einen Er- 
laß genehmigt hat, der den A.-, S.= u. B.-Räten das Recht verleiht, Neu- 
wahlen festzusetzen oder die Wahl derjenigen Abg. zur Verfassunggebenden 
Versammlung für ungültig zu erklären, die nicht die Interessen der Arbeiter- 
und Bauernmassen vertreten. Ihr Verhalten begründet die maximaleistische 
Regierung damit, daß die Kandidatenlisten für die Sozialrevolutionäre 
Partei, der die Mehrheit der Konstituante angehört, zu einer Zeit auf- 
gestellt worden seien, als die linksstehenden Sozialrevolutionäre, die jetzt 
(s. Gesch Kal. 1917 Tl. 2 S. 786) mit den Maximalisten zusammengehen, sich 
noch nicht von der Gesamtpartei getrennt hatten, und daß eine Wahl nach 
der Trennung der Partei eine überwältigende Mehrheit der linksstehenden 
Sozialrevolutionäre statt der jetzt herrschenden Parteigruppe unter Tschernow 
gebracht hätte. Die Sozialrevolutionäre Partei, die aus einer kleinen. 
radikalrevolutionären Organisation in kurzer Zeit zur Partei der großen 
Masse der Bauern und Soldaten angewachsen ist, vertritt die bäuerlichen 
Sozialisten Rußlands, sie bekämpft den Großgrundbesitz, ihre politische Waffe 
ist der Terror. Ihr linker Flügel lehnt sich in der inneren und äußeren 
Politik völlig an die Maximalisten an, die Hauptgruppe unter Führung 
Tschernows (Ackerbauminister unter Kerenski) geht, obwohl ihr extremes 
Agrarprogramm von den Maximalisten entschieden vertreten wird, ihren 
eigenen Weg. 
20. Jan. Ermordung Schingarews und Kokoschkins. 
Die Kadettenminister der Prov. Regierung Schingarew und Ko-
	        
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