Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Veleu. (Nov. 11.) 513 
Das „WTB."“ meldet aus Warschau: Generalgouverneur v. Beseler 
hat dem Regentschaftsrate mitgeteilt, daß auf Anordnung des Reichskanzlers 
die Landesverwaltung im Generalgouvernement Warschau mit Ausnahme 
der Vollbahnen unter dem militärischen Kommando und des militärischen 
Interessen dienenden Telegraphen- und Fernsprechverkehrs bis zum 1. Dez. 
der poln. Staatsregierung übergeben werden wird. Das Generalgouvernement 
wird nächster Tage aufgelöst. Die zur Aufrechterhaltung von Ruhe und 
Sicherheit im Lande noch notwendigen deutschen Besatzungstruppen treten 
unter die militärischen Befehlshaber. 
11. Nov. Übergang der Regierungsgewalt an die Polen, gewalt- 
same Beseitigung des Generalgouvernements, Pilsudski Diktator. 
Auf die Nachricht von den revolutionären Vorgängen in Deutschland 
bilden sich auch in Polen S.-Räte, denen die bisherigen Befehlshaber wider- 
standslos sich unterordnen. Unter Ausnützung der herrschenden Verwirrung 
gelingt es den Polen ohne besondere Schwierigkeit, die gesamte militärische 
und zivile Gewalt in ihren Besitz zu bringen. Die 17000 Mann starke 
deutsche Garnison Warschaus läßt sich von 4500 poln. Legionären, die nur 
etwa 400 Gewehre besitzen, entwaffnen. Riesige Vorräte an Kriegsmaterial 
im Werte von schätzungsweise 700 Mill. Mark werden von den Polen „er- 
beutet“. Generalgouverneur v. Beseler verläßt Warschau auf dem Dampfer 
„Pfeil“ am 12. morgens. 
In einem Aufruf teilt Pilfudski (s. S. 510) am 12. mit, der Re- 
gentschaftsrat habe ihn mit der Bildung der nationalen Regierung beauftragt. 
Der Regentschaftsrat sei bereit, die Gewalt in seine Hände zu legen. Er 
habe sich mit der derzeitigen Regierung der Volksrepublik in Lublin ((. 
S. 512) verständigt und werde mit den Parteivertretern über ihren Stand- 
punkt Konferenzen führen. Pilsudski weist in einem Aufruf an die Bürger 
darauf hin, daß die deutschen Soldaten jetzt Polen verlassen. Obwohl die 
Erbitterung der breiten Volksschichten gegen die Okkupationsbehörden leicht 
begreiflich sei, müsse doch dieser Rückzug in vollständiger Ordnung durch- 
geführt werden. Er habe entsprechende Weisungen an die deutschen Sol- 
datenräte in Warschau gegeben und fordere alle Bürger auf, Ruhe zu bewahren. 
Der Regentschaftsrat richtet seinerseits einen Aufruf an das poln. 
Volk, in dem erklärt wird, daß angesichts der drohenden inneren und äußeren 
Gefahren und zur Vereinheitlichung der militärischen Verhandlungen und 
Aufrechterhaltung der inneren Ordnung die militärische Gewalt und das 
Oberkommando über alle poln. Truppen Pilsudski übertragen wurde. Nach 
der Bildung der nationalen Regierung werde der Regentschaftsrat ihr seine 
Gewalt übergeben und Pilsudski habe sich gleichzeitig verpflichtet, seine 
Gewalt als Oberkommandant an diese Regierung zu übertragen. 
Die Haltung des Generalgouverneurs v. Beseler und der ihm unter- 
stellten Behörden in jenen kritischen Tagen hat in der deutschen Presse 
wiederholt scharfe Kritik gefunden. In einer Zuschrift an die deutsche Presse 
am 12. Aug. 1920 (abgedruckt in der „Frankf. Ztg.“ 1920 Nr. 599) hat 
Generaloberst v. Beseler zu diesen Angriffen Stellung genommen, wobei er 
mitteilt, daß die von ihm beim Kriegsministerium beantregte gerichtliche 
Untersuchung eingestellt worden sei, weil das untersuchende Gericht weder 
auf militärischem, noch auf politischem Gebiet einen Anlaß gefunden habe, 
die Sache weiter zu verfolgen. Weiter heißt es in der Zuschrift: Nach dem 
Waffenstillstandsangebot sah Polen den Krieg für uns als verloren an und 
die Gärung im Lande nahm derartig zu, daß ich eine möglichst baldige 
Uebergabe der Verwaltung an die Polen, die Auflösung des Generalgouv. 
und meinen Rücktritt für unumgänglich hielt. Ich reiste deshalb am 4. Nov. 
Europäischer Geschichtskalender. LIX41 33
	        
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