654 Die Friedens= und Waffenstiltandsverhandlungen. A. Ber Friedt im Often.
Was nun die faktisch vor sich gehende Sebstbestimmung der Ukraina in
Gestalt einer Volksrepublik anbetrifft, so kann dieser Borgang keinen Raum
für Konflikte zwischen den beiden Bruderrepubliken geben. In Anbetracht
dessen, daß es in der Ukraina keine Okkupationstruppen gibt, daß das poli-
tische Leben dort frei verläuft, daß es dort weder mittelalterliche Standes-
organe gibt, die das Land repräsentieren wollen, noch von oben auf Grund
der Machtstellung ernannte Scheinministerien, die innerhalb der Grenzen
handeln, die ihnen von oben eingeräumt werden, in Betracht ziehend, daß
auf dem Territorium der Ukraina überall freigewählte Sowjets der Arbeiter-,
Soldaten-- und Bauerndeputierten existieren, und daß bei der Wahl aller
Organe der Selbstverwaltung das Prinzip des allgemeinen, gleichen, direkten
und geheimen Wahlrechts angewandt wird, gibt es und kann es keinen
Zweifel geben, daß der Prozeß der Selbstbestimmung der Ukraina an den
geographischen Grenzen und in den staatlichen Formen, die dem Willen des
Ukr. Staates entsprechen, seine Vollendung finden wird. In Anbetracht des
Vorstehenden und in Uebereinstimmung mit der in der Sitzung v. 10. Jan.
abgegebenen Erklärung sieht die russische Delegation keinerlei Hindernisse
für eine selbständige Teilnahme der Delegation des Generalsekretariats an
den Friedensverhandlungen.
Holubowitsch erklärt hierauf, die Deklaration der vier verbündeten
Mächte zur Kenntnis zu nehmen. Auf Grund derselben werde seine Dele-
gation an den Friedensverhandlungen teilnehmen.
General Hoffmann bemerkt hierauf, er habe aus der Antwort des
Vorsitzenden der Petersburger Delegation auf seinen Protest ersehen, daß
Trotzki nicht verstanden habe, warum die von ihm beanstandeten Funk-
sprüche und Veröffentlichungen gegen den Geist des Waffenstillstandes ver-
stoßen. Am Kopf des Waffenstillstandsvertrages ständen die Worte „Zur
Herbeiführung eines dauerhaften Friedens“. Die russische Propaganda ver-
stoße hiergegen, weil sie nicht einen dauerhaften Frieden anstrebe, sondern
Revolution und Bürgerkrieg in unsere Länder tragen möchte. — In seiner
Antwort verweist Trotzki darauf, daß die gesamte deutsche Presse in Ruß-
land zugelassen sei, und zwar auch jene, welche den Ansichten der russ.
reaktionären Kreise entspreche, und die dem Standpunkte der Regierung der
Volkskommissäre zuwiderlaufe. Es herrsche also vollkommene Parität in
dieser Sache, die mit dem Waffenstillstandsvertrage nichts zu tun habe. —
General Hoffmann repliziert, daß sein Protest sich nicht gegen die russ.
Presse gerichtet habe, sondern gegen offizielle Regierungskundgebungen und
offizielle Propagandatätigkeit, die mit der Unterschrift des Oberkomman-
dierenden Krylenko versehen sei. Der Oberbefehlshaber Ost und der Staats-
sekretär des Aeußern betrieben keine analoge Propaganda. — Trotzki er-
widert, daß die Bedingungen des Waffenstillstandsvertrages keine Be-
schränkung für die Aeußerung der Meinung der Bürger der russ. Republik
oder ihrer regierenden oder leitenden Kreise enthielten oder enthalten
könnten. — v. Kühlmann stellt zu den Bemerkungen des Vorsitzenden der
russ. Delegation fest, daß die Nichteinmischung in die russ. Verhältnisse ein
feststehender Grundsatz der deutschen Regierung sei, der aber natürlich volle
Gegenseitigkeit erheische. — Trotzki entgegnet, die Parteien, die der russ.
Regierung angehören, würden es als einen Schritt vorwärts anerkennen,
wenn die deutsche Regierung sich frei und offenherzig über ihre Ansichten
bezüglich der inneren Verhältnisse ausspräche, insofern sie dies für notwendig
erachten würde. — Hierauf wird die Sitzung geschlossen.
11.—18. Jan. Sitzungen der deutsch-österr.-ung.-russ. Kom-
mission zur Beratung der politischen und territorialen Fragen.