656 Nie Priedens- nd Weffentilstandsverhaublungen. A. Ver Friede in Gsten.
Die russ. Regierung hat, entsprechend ihren Grundsätzen, für alle in Ruß-
land lebenden Völker ohne Ausnahme ein bis zu ihrer völligen Absonderung
gehendes Selbstbestimmungsrecht proklamiert. Wir behaupten, daß in Aus-
übung dieses Selbstbestimmungsrechts in einem Teile der von uns besetzten
Gebiete die zur Vertretung der betreffenden Völker de facto bevollmächtigten
Körperschaften ihr Selbstbestimmungsrecht im Sinne der Absonderung von
Rußland derart ausgeübt haben, daß nach unserer Auffassung die Gebiete
heute nicht mehr als zum russ. Reiche in seinem ehemaligen Umfange ge-
hörig betrachtet werden können.
Hierauf erklärt Trotzki: Wir halten unsere Erklärung im vollen Um-
fange aufrecht, daß die Völkerschaften, die das russ. Gebiet bevölkern, ohne
äußeren Einfluß das Recht der Selbstbestimmung haben, und zwar bis zur Los-
trennung von Rußland. Wir können jedoch die Anwendung dieses Prinzips
nicht anders anerkennen, als gegenüber den Völkern selbst und nicht etwa
gegenüber gewissen privilegierten Teilen derselben. Wir müssen die Auf-
fassung des Herrn Vorsitzenden der deutschen Delegation ablehnen, welche
dahin ging, daß sich der Wille in den besetzten Gebieten durch tatsächlich
bevollmächtigte Organe geäußert habe, denn diese tatsächlich bevollmächtigten
Organe konnten sich nicht berufen auf die von uns proklamierten Prinzipien.
Anknüpfend an diese prinzipiellen Ausführungen entwickelt sich eine
lange, hauptsächlich in theoretischem Rahmen geführte Debatte über die
Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Zeitpunkte ein neuer
Staat im Wege der Absonderung eines Bestandteils eines existierenden
Staates von diesem entsteht.
Das Ergebnis der beiderseitigen Ausführungen über diesen Punkt
wird vom Staatssekretär v. Kühlmann solgendermaßen zusammengefaßt:
Trotzki hat vorgeschlagen: Errichtung von Vertretungskörpern, denen die
Organisation und die Festsetzung derjenigen Modalitäten übertragen werden
soll, unter denen von uns einstweilen rein theoretisch konzedierte Volks-
abstimmungen oder Volkskundgebungen auf breiter Basis erfolgen sollen,
während wir auf dem Standpunkte stehen und stehen bleiben müssen, daß
mangels anderer Vertretungskörper die vorhandenen und historisch gewor-
denen Vertretungskörper präsumtiv der Ausdruck des Volkswillens sind, be-
sonders in der einen vitalen Frage des Willens der Nation, eine Nation
zu sein. Zusammenfassend stellt schließlich Staatssekretär v. Kühlmann fest,
daß sich aus den Ausführungen Trotzkis zu ergeben scheine, er wäre bereit,
die in den besetzten Gebieten vorhandenen Organe der Volksvertretung als
provisorische Organe anzuerkennen, wenn diese Landteile nicht militärisch
besetzt wären, und er würde diesen dann auch die Befugnis zuerkennen,
das von ihm geforderte Referendum durchzuführen.
Trotzki erklärt hierauf, daß Aeußerungen von Landtagen, Stadt-
vertretungen und dergleichen als Aeußerungen des Willens eines bestimmten,
einflußreichen Teiles der Bevölkerung aufgefaßt werden könnten, die aber
nur Grund zur Annahme bildeten, daß das betreffende Volk mit seiner
staatlichen Position unzufrieden sei. Hieraus ergebe sich die Schlußfolgerung,
daß ein Referendum eingeholt werden müsse, wozu aber die Schaffung eines
Organs Vorbedingung sei, das die freie Abstimmung der Bevölkerung
garantieren könne. “
Im weiteren Verlauf der Besprechungen behauptet Trotzki, daß
zwischen den Erklärungen der Zentralmächte v. 25. Dez. und der Formu-
lierung der Punkte 1 und 2 v. 27. Dez. ein Wiederspruch bestehe, der aus
den Kommentaren der deutschen Presse übrigens deutlich hervorgehe. v.
Kühlmann erklärt demgegenüber, daß beide Dokumente Ausflüsse desselben
Geistes und derselben Politik seien, wie sie der Reichskanzler in seiner