I. Bie Friebensverhandlunzen mit Großrußland u. der Abraine. (Jan. 11.—18.) 657
programmatischen Rede im Reichstage (s. Gesch Kal. 1917 Tl. 1 S. 989 ff.) an-
gekündigt habe. Diese Rede habe im Grunde bereits die Deklaration der
Verbündeten v. 25. Dez. enthalten und ebenso auch den Hinweis gebracht,
daß die deutsche Politik ihre Beziehungen zu Polen, Litauen und Kurland
unter Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu pflegen
beabsichtige. — Schließlich wirft Trotzki die Frage auf, warum denn die
Organe der fraglichen Völkerschaften dann nicht zu den Verhandlungen in
Brest-Litowsk eingeladen worden seien, wenn sie sogar das Recht haben
sollten, über Gebietsteile zu verfügen. An eine solche Teilnahme der Ver-
treter dieser Völker an den Verhandlungen werde aber natürlich nicht gedacht,
weil eben diese Nationen nicht als Subjekte, sondern als Objekte der Ver-
handlungen betrachtet würden. Als daraufhin v. Kühlmann und Graf
Czernin ihre Bereitwilligkeit äußern, der Frage der Heranziehung von
Bertretern der besprochenen Gebiete näher zu treten, beantragt Trotzki,
mit Rücksicht auf diese außerordentlich wichtigen Erklärungen der Vertreter
der Mittelmächte die Sitzung zu vertagen, um es der russ. Delegation zu
ermöglichen, sich mit ihrer Regierung ins Benehmen zu setzen.
Am 12. Jan stellt sodann Kamenew namens der russ. Delegation fest,
sie sei nicht in der Lage, als Ausdruck des Volkswillens der okkupierten Gebiete
die Erklärungen anzuerkennen, die von dieser oder jener sozialen Gruppe
oder Einrichtung gemacht worden seien, insoweit diese Erklärungen unter
dem Regime der fremden Okkupation erfolgten und von Organen aus-
gingen, deren Rechte nicht von der Volkswahl herrühren, und die über-
haupt ihr Leben in dem Rahmen fristen, der den Plänen der militärischen
Okkupationsbehörden nicht widerspricht. Die Delegation stellt fest, daß
während der Okkupation nirgends, weder in Polen noch in Litauen noch in
Kurland, irgendwelche demokratisch gewählten Organe weder gebildet werden
konnten, noch existieren, die mit irgendwelchem Rechte darauf Anspruch
eibeben könnten, als Ausdruck des Willens breiter Kreise der Bevölkerung
zu gelten.
Was das Wesen der Erklärung über das Streben zur vollen staatlichen
Unabhängigkeit anbetreffe, so erkläre die russ. Delegation:
1. Aus der Tatsache der Zugehörigkeit der besetzten Gebiete zum Bereich
des früheren russ. Kaiserreichs zieht die russ. Regierung keine Schlüsse, die
irgendwelche staatsrechtliche Verpflichtung der Bevölkerung dieser Gebiete
im Verhältnis zur russ. Republik auferlegen würden. Die alten Grenzen
des früheren russ. Kaiserreichs, die Grenzen, die durch Gewalttaten und Ver-
brechen gegen die Völker gebildet wurden, insbesondere gegen das poln.
Volk, sind zusammen mit dem Zarismus verschwunden. Die neuen Grenzen
des brüderlichen Bundes der Völker der russ. Republik und der Völker, die
außerhalb ihres Rahmens bleiben wollen, müssen gebildet werden durch
einen freien Entschluß der entsprechenden Völker.
2. Deswegen besteht für die russ. Regierung die Grundaufgabe der
jetzt geführten Verhandlungen nicht darin, in irgendwelcher Weise das weitere
zwangsweise Verbleiben der genannten Gebiete in dem Rahmen des russ.
Reiches zu verteidigen, sondern in der Sicherung der wirklichen Freiheit
der Selbstbestimmung der inneren Staatseinrichtung und internationalen
Lage der genannten Gebiete. Nur dann wird sich die russ. Republik gesichert
fühlen vor dem Hineinzerren in irgendwelche territoriale Streitigkeiten und
Konflikte, wenn sie überzeugt sein wird, daß die Linie, die sie von ihren
Nachbarn trennt, gebildet ist durch den freien Willen der Völker selbst und
nicht durch die Gewalt von oben, die nur für kurze Zeit diesen Willen
unterdrücken könnte.
3. Die so verstandene Aufgabe setzt voraus die vorhergehende Ver-
Europäischer Geschichtskalender. LIX., 42