Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

Bie ssterreichisch-ungarische Monarchie und die Nachfolgestaaten. (Okt. 16.—18.) 69 
zeitig erfolgen. (Stürm. Widerspruch b. d. Karolyip. und Rufe: Sofort!) Die 
natürliche Ordnung der Dinge sei, daß Ungarn sofort an die Arbeit schreite 
und daß es auf Grundlage der Personalunion seine selbständigen Einrich- 
tungen vorbereite und seine gegenseitigen Beziehungen regle, und zwar auf 
selbständiger Grundlage, sowie für jene finanziellen Maßregeln sorge, die 
sich daraus ergeben. Dies sei die rationelle und reelle Art der Durchführung 
jener Personalunion, auf deren Grundlage die Regierung sich stelle. 
In der Debatte über die Regierungserklärung sagt Graf Michael 
Karolyi, jetzt komme der Ministerpräsident mit der Personalunion, von 
der er noch vor kurzem nichts habe wissen wollen. Die Personalunion 
müsse in schleunigem Tempo durchgeführt werden. Jedermann wisse, was 
in Oesterreich vorgehe und welcher Gegensatz zwischen Oesterreich und 
Ungarn bestehe. Es sei daher unmöglich, Ungarns Interessen einem Manne 
anzuvertrauen, der sie nicht ausschließlich vertrete. Wichtig sei, daß wenigstens 
der Friede gerettet werde. Die Politik jener, die das deutsche Bündnis 
vertiefen wollen, habe vollständig Schiffbruch gelitten. Daraus müsse man 
die Konsequenzen ableiten. Der Gedanke der Vertiefung des deutschen 
Bündnisses stehe im Gegensatz zum Gedanken des Bundes der europäischen 
Nationen. Es müßten solche Institutionen geschaffen werden, die den 
dauernden Frieden sichern. Die Nation wolle nicht, daß solche Staats- 
männer an ihrer Spitze stehen, die bisher eine verfehlte Politik befolgt 
haben. Der ganze Krieg sei eine Irreleitung gewesen. (Großer Lärm. 
Abg. Lovaszy [Karolyi-Partei] ruft: „Nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir 
zur Partei der Entente gehören!“ Neuerlicher großer Lärm, so daß die 
Sitzung unterbrochen werden muß. — (Am 18. wird mit 91 gegen 73 Stimmen 
beschlossen, dem Abg. L. für seinen Zwischenruf eine Rüge zu erteilen.) 
Mit Erlaubnis des Hauses verliest sodann Abg. Johann Hock ein 
Memorandum der Karolyi-Partei an den König, das die vom Grafen 
Karolyi entwickelten Darlegungen in 12 Punkten präzisiert. Die Forde- 
rungen gipfeln in der Schaffung eines politisch, militärisch und wirtschaft- 
lich vollkommen selbständigen und unabhängigen Ungarn unter dem Szepter 
des Königs, in der unverzüglichen Einleitung von Friedensverhandlungen 
ohne Rücksicht auf die bisherige Interessengemeinschaft, wobei Ungarn 
lediglich von einem ung. Staatsmanne vertreten sein solle, der vollen Wir- 
kungskreis besitze, in der raschen Demokratisierung Ungarns und in der 
Regelung der Nationalitätenfrage im Sinne des Wilsonschen Vorschlages. 
Am 17. führt Graf Tisza aus: Wir müssen offen zugeben, daß wir 
den Krieg verloren haben, nicht aus dem Gesichtspunkte, als ob wir nicht 
weiter durchhalten und durch heldenmütige Verteidigung erzwingen könnten, 
daß der Feind den endgültigen Sieg sehr teuer bezahlen müßte. Wir 
haben den Krieg in der Hinsicht verloren, daß wir infolge der unverhältnis- 
mäßigen Verschiebung der Kräfteverhältnisse keine Hoffnung mehr besitzen, 
den Krieg zu gewinnen, so daß wir den Frieden anstreben unter Bedin- 
gungen, die wir unter solchen Verhältnissen annehmen können. Demzufolge 
kann ich es nur billigen, daß wir im Einvernehmen mit unserem deutschen 
Bundesgenossen den Frieden auf Grund der Wilsonschen 14 Punkte und 
Zusatzpunkte angeboten haben. Mit der Tatsache allein, daß wir uns auf 
die Grundlage der 14 Punkte Wilsons gestellt haben, ist die Aenderung 
und Neuorientierung unserer auswärtigen Politik, von der Graf Karolyi 
gestern gesprochen hat, gegeben. Der Wilsonsche Grundsatz beruht ja auf 
dem Völkerbund und schließt jedes besondere Bündnis aus. Die Einrichtung 
des Völkerbundes macht ja das System der besonderen Bündnisse über- 
flüssig. Uns hat in das Bündnissystem, dessen treue Mitglieder wir waren 
und auch sein werden, solange das Bündnis bestehen wird, die Gefahr
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.