Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

2. Jur Schuldfraze am Ausbruch des Weltkriezes. 771 
den Prozeß ist als Maiheft 1922 der „Süddeutsch. Monatshefte“ unter dem 
Titel „Die Kriegsschuldlüge vor Gericht“ erschienen.) 
Die Feststellungen dieses Prozesses haben aufs neue die Frage aktuell 
werden lassen, warum die damalige deutsche Regierung sich nicht rechtzeitig 
im Frühjahr 1919 um die Herbeischaffung der Originalakten und 
ihre Verwertung zur Aufdeckung der Eisnerschen Fälschungen bemüht 
hat, um so dem Bemühen des Feindbundes, die ganze Kriegsschuld Deutsch- 
land aufzubürden, nach Möglichkeit entgegenzuarbeiten. Eine Erklärung 
für das schlechterdings unbegreifliche Verhalten der Reichsregierung, die 
sich trotz wiederholter Anfragen über diese Angelegenheit nicht geäußert 
hat, kann nur darin gefunden werden, daß die Reichsregierung absichtlich 
die Unschuld Deutschlands nicht ans Licht kommen lassen wollte und deshalb 
mit Absicht alle Entlastungsbeweise unterdrückte, um die Feinde nicht zu 
reizen und die kaiserl. Regierung und ihre Politik nicht zu verteidigen. 
Im Hinblick darauf hat Prof. Delbrück als Sachverständiger in dem Prozeß 
Cossmann am 29. April gesagt: „Weshalb hat die Regierung, die wir im 
November 1918 bekommen haben, nicht viel schneller diese Dokumente alle 
zusammenstellen und veröffentlichen lassen? Eben weil sich bei ihr auch 
schon die unselige Vorstellung gebildet hatte, es hilft ja alles nichts, wir sind 
ja doch alle mehr oder minder schuldig gewesen. Sie hat sich viel schuldiger 
egefühlt — ich meine nicht die Regierung an sich, sondern unser deutsches 
Volk —, als es in Wirklichkeit war. Das ist so weit gegangen, daß es in 
Versailles der Viererkommission schwer gelungen ist, ihren Bericht zur An- 
nahme zu bringen, weil es den Herren in Berlin schien, als wäre er zu 
günstig, weil sie gar nicht glauben konnten, daß wir wirklich so reine 
Wäsche hätten... Allerhand Widerstände gab es zu überwinden, dies 
alles aus der falschen psychologischen Einstellung heraus, die z. T. auf der 
unseligen Szögyeny-Depesche, z. T. auf dem verstümmelten Schoenschen Be- 
richt ruhte, der auf das deutsche Volk einen fürchterlichen Eindruck gemacht 
hatte."“ (Vgl. auch den Artikel des Obersten R. v. ylander, „Kriegsschuld 
und Schuldbewußtsein“ in der „München-Augsburger Abendztg.“ 1922 
Nr. 214, worin der Verf., der als Mitglied der militärischen Delegation 
in Versailles besonders genaue Einblicke in die damalige Stimmung in 
den deutschen Regierungskreisen bekommen hat, darlegt, daß von der Reichs- 
regierung, bevor die deutsche Friedensdelegation nach Versailles ging, jede 
von militärischer Seite geforderte Erörterung der Schuldfrage abgelehnt 
wurde, wodurch der richtige Zeitpunkt für die deutsche Gegenpropaganda 
gegen die feindliche Schuldlüge verpaßt wurde.) 
2. Verhandlungen über ein engl.-ruff. Marineabkommen im 
Frühjahr 1914. 
Die „Dtsch. Allg. Ztg.“ v. 19. Dez. 1918 (Nr. 645) beginnt mit der 
Veröffentlichung einer Reihe von russ. Urkunden, welche den Gang der 
Verhandlungen über ein engl.-russ. Marineabkommen im Frühjahr 
1914 und die Tendenzen, die ihnen zugrunde lagen, näher beleuchten. Zu- 
nächst teilt sie einen Depeschenwechsel zwischen dem russ. Minister des Aeußeren 
Ssasonow und dem russ. Botschafter in Paris Iswolski mit, welcher einige 
Aufschlüsse über die Vorgeschichte der engl.-russ. Marinekonvention gibt 
Ssasonow an Iswolski. 
St. Petersburg, den 20. März), 2. April 1914. 
In dem Schreiben v. 5./18. März berührten Sie die Frage eines 
engeren Zusammenschlusses zwischen Rußland und England und drückten 
den Wunsch aus, meine Ansicht über diesen Gegenstand zu erfahren, be- 
sonders auch deshalb, weil diese Frage bei dem bevorstehenden Besuch des 
49“
	        
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