2. Int Sthuldfrage am Ansbruth des Weltkrieges. 775
sehr viel günstigeres Feld für die Agitation zugunsten Deutschlands bieten,
auf die Deutschland mehr Gewicht legt als je zuvor. Um mich zu resümieren,
möchte ich sagen, daß auch der Engländer, der am festesten davon überzeugt
ist, daß ein Konflikt mit Deutschland früher oder später unvermeidlich
werden wird, vor dem Gedanken zurückschrecken wird, England durch bestimmte
Bündnisverträge zu binden mit Verpflichtungen, deren Folgen und Be-
dingungen er nicht voraussehen kann.
Benckendorff an Ssasonow.
London, den 29. April, 12. Mai 1914.
Sir Edward Grey ließ mich bitten, zu ihm zu kommen, und sagte mir,
als er mich empfing, daß er seit seiner Rückkehr aus Paris keine andere
Gelegenheit gehabt habe, mich zu sehen, als in Gegenwart des franz. Bot-
schafters, was ihm nicht gestattet habe, mir, wie er es für nötig halte, dar-
zulegen, wie tief die Eindrücke seien, die er auf dieser Reise empfangen
habe. Er sagte mir, er glaube, wenn er sie mir schildere, nicht nur seine
persönlichen Eindrücke wiederzugeben, sondern auch die des Königs und
aller derer, die an dem Besuch teilgenommen hätten. Grey sagte mir, daß
diese Eindrücke seine Erwartungen bei weitem übertroffen hätten, daß er
sich nicht genügend beglückwünschen könne zu dem Empfang durch den
Präsidenten der Republik und Herrn Doumergue, mit denen eine völlige
Uebereinstimmung über die laufenden Fragen und die allgemeine politische
Lage erzielt worden sei; daß darüber hinaus die Aufnahme Ihrer Maje-
stäten überall, wo sie erschienen wären, und bei allen Gelegenheiten das
Gepräge aufrichtiger Sympathie gehabt habe, was man gar nicht habe ver-
kennen können. Die engl. Regierung habe hieraus den Schluß gezogen,
daß der Grundgedanke der Entente in Frankreich ebenso tief Wurzel gefaßt
habe wie in England, und daß er infolgedessen auf einer ganz besonders
festen und dauerhaften Grundlage ruhe. Grey sprach bei dieser Gelegenheit
mit einer Wärme, die ihm für gewöhnlich nicht eigen ist und die bewies,
daß festgegründet das Urteil ist, aus dem er seine Schlüsse gezogen hat.
Die Absicht, die ihn leitete, als er mich zu sich bat, um mir lediglich diese
Mitteilung zu machen, war klar. Er wollte mir den Beginn einer Phase
noch stärkerer Annäherung an Frankreich ankündigen. Diese Absicht trat für
mich noch deutlicher in die Erscheinung, als er mir ohne weitere Ueber-
leitung bemerkte, daß ich zweifellos von der Unterredung, die er mit
Doumergue über Rußland gehabt habe, unterrichtet worden sei. Er sagte mir,
es sei ihm in Paris, fern von seinen Kollegen, im gegebenen Moment unmöglich
gewesen, mehr als seine persönliche Zustimmung zu dem Plane auszusprechen,
daß die beiden Regierungen der Kaiserlichen Regierung von allen zwischen
England und Frankreich bestehenden militärischen Abmachungen Mitteilung
machen sollten. Heute könne er mir sagen, daß er gleich nach seiner Rückkehr nach
London mit dem Premierminister darüber gesprochen habe, der seiner An-
sicht beipflichtete und gegen diesen Plan keine Einwendungen zu erheben
habe, daß aber die Angelegenheit naturgemäß zu wichtig sei, um ohne
Zustimmung des Ministerrates entschieden werden zu können. Grey sagte
mir, es sei ihm zu seinem Bedauern in dieser ersten Woche nicht möglich
gewesen, das Kabinett zu diesem Zwecke zu versammeln: die Ulsterfrage
und das Budget fesselten die ganze Aufmerksamkeit der Minister. Ich habe
nur wenige Worte erwidert. Ich dankte Sir Edward Grey für seine Mit-
teilungen, sagte ihm, daß ich ihre ganze Tragweite zu würdigen wisse, und
faßte die Lage dahin zusammen, daß, wenn die beiden Regierungen uns
ihre militärischen Abmachungen mitteilten, es der Kaiserlichen Regierung,
wenn sie es für angezeigt hielte, freistehen würde, der engl. Regierung
einen entsprechenden Vorschlag auf analoger Basis zu machen. Ich sagte.