Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

2. Jur Schuldfrate am Ausbruch des Weltkrieges. 781 
Die „Dtsch. Allg. Ztg.“ bemerkt dazu: Am 11. Juni 1914 antwortete 
im engl. Unterhause auf die Anfrage des Abg. King, ob zwischen England 
und Rußland kürzlich irgendein Marineabkommen abgeschlossen worden sei 
und ob irgendwelche Verhandlungen zum Zwecke eines Marineabkommens 
kürzlich stattgefunden hätten oder gegenwärtig noch stattfänden, Sir E. Grey: 
Auf eine ähnliche Anfrage, die sich auf die Landstreitkräfte bezog, habe der 
Premierminister im letzten Jahre geantwortet, daß es keine unveröffentlichten 
Abmachungen gäbe, welche, wenn zwischen europäischen Mächten ein Krieg 
entstünde, die Freiheit der Entschließung der Regierung oder des Parla- 
ments darüber, ob England am Kriege teilnehmen solle oder nicht, ein- 
schränken oder behindern würde Diese Antwort gelte auch für die jetzt 
gestellten Fragen. „Sie ist heute so wahr, wie sie es damals war. Keine 
Abmachungen sind seither mit irgendeiner Macht abgeschlossen worden, die 
diese Erklärung weniger wahr machen würden. Keine derartigen Verhand- 
lungen sind im Gange, und es werden, soweit ich das beurteilen kann, 
voraussichtlich keine eingeleitet werden. Wenn aber irgendein Abkommen 
geschlossen würde, das es notwendig machte, die vorerwähnte Erklärung des 
Premierministers vom vorigen Jahre zurückzunehmen oder einzuschränken, 
so müßte es nach meiner Meinung dem Parlament vorgelegt werden, und 
ich nehme an, daß dies geschehen würde."“ 
Die „Dtsch. Allg. Ztg.“ v. 29. Dez. 1918 (Nr. 660) veröffentlicht fol- 
gendes Dokument, das schildert, wie Sir E. Grey den deutschen Botschafter 
in London über die Lage aufklärte. 
Benckendorff an Ssasonow. 
London, den 12./25. Juni 1914. 
Grey sagte mir heute, daß er, stark beunruhigt durch die nicht zu- 
treffenden Gerüchte, welche in der deutschen Presse über den Inhalt der 
sogenannten engl.-russ. Marinekonvention im Zusammenhang mit der Frage 
der Meerengen verbreitet werden, geglaubt habe, diese Angelegenheit ver- 
traulich mit Lichnowsky besprechen zu müssen, der sich nach Kiel begebe, 
wo er den Kaiser sehen wird. Grey versicherte dem Botschafter, daß seit 
fünf Jahren die Frage der Meerengen zwischen England und Rußland 
nicht berührt worden sei. Er versicherte, daß zwischen England einerseits 
und Frankreich und Rußland anderseits weder ein Bündnis, noch eine 
Konvention bestehe. Jedoch sagte er ihm, er wünsche ihm keineswegs zu 
verbergen, daß in den letzten Jahren der Grad der Intimität zwischen den 
drei Regierungen derart gewesen sei, daß sie sich fortlaufend und bei jeder 
Gelegenheit über alles besprochen hätten, geradeso, als ob sie verbündet 
wären. Anderseits versicherte er, daß im Laufe dieser Jahre diese Be- 
sprechungen niemals bei irgendeiner Gelegenheit einen aggressiven Charakter 
gegen Deutschland gehabt, noch auf das, was mit Einkreisungspolitik be- 
zeichnet wird, abgezielt hätten. 
Die „Dtsch. Allg. Ztg.“ bemerkt dazu: Sachlich wäre hierzu zu be- 
merken, daß seit 1909 zwischen der engl. und russ. Regierung vielleicht keine 
Abmachungen über die Dardanellenfrage getroffen und keine Noten aus- 
getauscht sein mögen. Die engl. und russ. Staatsmänner haben diese Frage 
aber wiederholt erörtert. Sir E. Grey machte hier denselben spitzfindigen 
Unterschied wie in seiner anschließenden Erklärung, daß England weder mit 
Frankreich noch mit Rußland Bündnisse oder Konventionen geschlossen habe. 
Wie weit diese Erklärung zutraf, wußten Sir E. Grey, Graf Benckendorff 
und Herr Ssasonow nach den Verhandlungen der vorhergehenden Wochen 
sehr genau. Der deutsche Botschafter konnte sie aber nur in einem den Tat- 
sachen nicht entsprechenden Sinne auslegen.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.