2. Iut Squldfrage an Anebruqh des Wellbrieges. 785
den politischen und strategischen Bedingungen dieses Unternehmens beleuchtet
der Chef des Generalstabs die Frage, welche Gegner bei dieser Operation
ins Auge gefaßt werden müssen. An erster Stelle sind hier die Türken
zu nennen, die gegenwärtig in der Gegend von Konstantinopel über sieben
Korps verfügen. Nach dem neuen Plan Enver Paschas, dessen Verwirklichung
übrigens äußerst fragwürdig sei, beabsichtigen sie, drei Korps auf dem
europäischen Ufer der Meerengen zu belassen.
In diesem Zusammenhang bemerkt der Minister des Aeußern, daß
gegen unsere Politik der Besitzergreifung der Mecrengen noch Griechenland
und Bulgarien auftreten können. Angesichts aber ihrer historischen Feind-
schaft und des Gegensatzes ihrer Interessen sind die Chancen groß, daß,
wenn einer dieser Staaten sich gegen uns wendet, der andere dann auf
unsere Seite tritt, und daß sie auf diese Weise sich gegenseitig paralysieren
werden. Auf die Frage, ob wir in diesem Falle nicht auf die Unterstützung
Serbiens rechnen dürfen, antwortet S. D. Ssasonow, daß man nicht voraus-
setzen kann, daß unsere Aktion gegen die Meerengen außerhalb eines
europäischen Krieges unternommen werden könnte. Man muß annehmen,
daß unter solchen Umständen Serbien gezwungen sein wird, seine gesamte
Macht gegen Oesterreich--Ungarn zu werfen. Der Chef des Generalstabs
hebt die große Bedeutung eines serb. Angriffs gegen Oesterreich-Ungarn
für Rußland hervor, wenn Rußland und Oesterreich die Waffen gegeneinander
erheben sollten. Nach bei ihm eingelaufenen Mitteilungen sei Oesterreich
gezwungen, 4 oder 5 Korps für den Kampf gegen Serbien abzusondern.
General Shilinskij lenkt alsdann die Aufmerksamkeit auf den militärischen
Wert der Stellung, die Rumänien im Falle eines alleuropäischen Krieges
einnehmen wird.
S. D. Ssasonow antwortet, daß Rumänien allerdings dem Dreibund
nicht formell beigetreten sei, daß es aber zweifellos ein gegen uns gerichtetes
Militärbündnis mit Oesterreich-Ungarn abgeschlossen habe; das werde auch
von dem durch seine frühere Tätigkeit in Rumänien mit den dortigen
Verhältnissen gut vertrauten Kaiserl. Botschafter in Konstantinopel bestätigt.
Die gegenwärtig in die Erscheinung tretende für uns günstige Wendung
in der rumän. Politik und der öffentlichen Meinung Rumäniens gestatte
jedoch nach Ansicht des Ministers, in einem gewissen Grade Zweifel daran
auszusprechen, daß Rumänien im Falle eines Krieges zwischen uns und
Oesterreich tatsächlich gegen uns auftreten werde. Positiv aber könne man
mit einer Zurückhaltung nicht rechnen. Auf die Frage über unsere möglichen
Gegner an den Meerengen zurückgreifend, weist S. D. Ssasonow darauf hin,
daß im Falle unseres Zusammenstoßes mit dem Dreibund Deutschland und
Oesterreich keine Truppen nach den Meerengen werfen würden und daß
nur im ungünstigsten Falle Italien dorthin Landungstruppen schicken könnte,
obgleich es für dieses Land gefährlich wäre, seine franz. Grenzen zu ent-
blößen. Sich auf die Ansicht des Ministers des Aeußern über die allgemeine
Lage stützend, unter der die Lösung der Frage über die Meerengen vor
sich gehen könne, gibt der Chef des Generalstabes seiner Ueberzeugung
dahin Ausdruck, daß der Kampf um Konstantinopel außerhalb eines europ.
Krieges unmöglich sei. Infolgedessen hält es der General der Kavallerie
Shilinskij für seine Pflicht, hervorzuheben, daß eine Absonderung von Truppen
für eine Landungsoperation in der Nähe der Meerengen und selbst die
Möglichkeit einer solchen Operation von der allgemeinen Konjunktur bei
Kriegsbeginn abhänge. Die für eine Expedition vorgesehenen Korps können
nach Ansicht Shilinskijs nur dann nach Konstantinopel geschickt werden, wenn
ein Kampf an der Westfront nicht bevorstehe, oder wenn die Lage an dieser
Front günstig sei. Im entgegengesetzten Falle müssen diese Truppen an die
Europäischer Geschichtskalender. LIX#. 50