Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

786 Anhang I. Diplematisqhe Enthũlungen. 
Westfront geschickt werden, denn ein günstiger Ausgang des Kampfes an 
dieser Front werde auch die Frage der Meerengen in günstiger Weise lösen. 
Da nach dem Kriegsplan, der für den Fall eines Krieges an der Westfront 
zusammengestellt ist, alle Truppen aus den inneren Militärbezirken zur 
Bildung von Armeen für diese Front verwandt werden müssen, so sei es 
leider nicht möglich, die für eine Landungsoperation vorgesehenen südl. 
Korps durch andere Truppenteile aus dem Innern des Reiches zu ersetzen 
und dadurch die Möglichkeit zu schaffen, daß die füdl. Korps unter allen 
Umständen gegen Konstantinopel gesandt werden können. 
Aus den Worten des Chefs des Generalstabes folgert der Kaiserl. 
Botschafter in Konstantinopel, daß, wenn von Beginn des Krieges an 
Operationen an unserer Westfront notwendig werden, man nicht davon 
überzeugt sein könne. daß die für die Besitzergreifung der Meerengen not- 
wendigen Landungsarmeen vorhanden sein werden und folglich auch, daß 
diese Expedition überhaupt verwirklicht werden könne, wenn die Zeit dafür 
reif sei. M. N. Giers unterstreicht, daß es erwünscht sei, die für eine 
Landungsoperation notwendigen Truppen im voraus ausdrücklich zu be- 
stimmen, und dabei festzulegen, daß sie nicht von dieser Aufgabe abweichen 
und für einen anderen Zweck verwandt werden dürfen. Er regt dabei den 
Gedanken an, ob es nicht möglich sei, für die Operationen gegen Konstanti- 
nopel die im Kaukasus stationierenden Korps zu verwenden. General Shi- 
linskij hält den von Giers geäußerten Gedanken nicht für ausführbar, da 
nach Ansicht der Militärbehörde eine Expedition gegen Konstantinopel uns 
einen Krieg an der Kaukasusgrenze nicht ersparen wird. Der größte Teil 
der türk. Streitkräfte ist in Kleinasien stationiert. Nach dem Plan Enver 
Paschas sollen in dem europ. Teil der Türkei nur drei Korps verbleiben. 
Im Falle einer Landungsoperation in der Gegend der Meerengen muß es 
unsere Aufgabe sein, die Konzentrierung der übrigen Korps bei Konstanti- 
nopel zu verhindern und sie zur Kaukasfusgrenze abzulenken. Der General- 
quartiermeister des Generalstabes Danilow fügt hinzu, daß man die Kau- 
kafsustruppen für eine Landungsoperation gegen die Meerengen nicht 
verwenden kann, weil die Mobilisation im Kaukasus infolge lokaler Be- 
dingungen nur sehr langsam vor sich gehen werde. Auch gegen die vorherige 
Festlegung bestimmter Truppenteile ausschließlich für die Operationen gegen. 
Konstantinopel spricht sich der Generalquartiermeister energisch aus. Ab- 
gesehen von der Schwierigkeit der Aufgabe, in den Besitz Konstantinopels 
zu gelangen, das weit im Innern des Bosporus liegt, müssen wir, seiner 
Ueberzeugung nach, alle unsere Truppen, selbst wenn wir deren mehr hätten, 
wie gegenwärtig, notwendigerweise immer nach dem Westen gegen Deutsch- 
land und Oesterreich-Ungarn werfen. Wir müssen das Bestreben haben, 
uns einen Erfolg auf dem Hauptkriegsschauplatz zu sichern. Mit dem Sieg 
auf diesem Kriegsschauplatz fällt uns auch die günstige Lösung aller Neben- 
fragen von selbst in den Schoß. Diese Stellungnahme wird von dem Chef 
der 2. Operationsabteilung des Marinestabes, Kapitän 2. Ranges Nemitz nicht 
geteilt. Kapitän Nemitz findet, daß wir durchaus gleichzeitig mit den Ope- 
rationen an der Westfront Konstantinopel und die Meerengen durch unsere 
Streitkräfte besetzen müssen, damit zum Beginn der Friedensverhandlungen 
mit dem Faktum ihrer Besitzergreifung durch uns gerechnet werden muß. 
Nur in diesem Falle wird Europa die Meerengenfrage so lösen, wie wir 
es brauchen. — Wenn man nicht im voraus aus den Beständen unserer 
Armee die für diese Aufgabe notwendige Anzahl Truppen absondern könne, 
so müssen nach Ansicht des Kapitäns Nemitz für diesen Zweck drei neue 
Korps formiert werden. Dieses neue Opfer für die Bewaffnung kann nicht 
als über die Kräfte Rußlands gehend angesehen werden, wenn dadurch die
	        
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