814 Auhaus I. Biplemsetische Euthüllungen.
aus Petersburg zukommenden Winken entsprechend einzurichten. Beide
Fürsten werden, wenn sie zur Regierung berufen sein werden, der eine wie
der andere, dieselbe Richtschnur verfolgen: indem sie sowohl ihren persön-
lichen Gefühlen als auch dem Zwange der monarchischen Tradition gehorchen,
werden und können sie sich nur durch die Interessen des Deutschen Reiches
beeinflussen lassen. Der zur Wahrung dieser Interessen einzuschlagende Weg
ist aber in so zwingender Weise vorgeschrieben, daß es unmöglich ist, von
ihm abzuweichen. Es wäre widersinnig, anzunehmen, daß die Regierung
einer Nation von 50 Millionen Einwohnern — bei dem Maße von Zivili-
sation und der Macht der öffentlichen Meinung, wie sie in Deutschland
vorhanden ist — diesem Lande die Leiden, welche ein jeder große, auch
ein siegreicher Krieg im Gefolge hat, auferlegen würde, ohne der Nation
genügende schwerwiegende und schlagende Beweise zu geben, um die öffent-
liche Meinung von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen. Mit
einem Heere wie dem unserigen, welches sich ohne Unterschied aus allen
Klassen der Bevölkerung zusammensetzt, welches die Gesamtheit der Lebens-
kraft des Landes darstellt und nichts anderes als ein Volk in Waffen ist,
mit einem solchen Heere sind die Kriege der verflossenen Jahrhunderte,
welche die Folge von dynastischen Stimmungen und Verstimmungen oder
monarchischen Ehrgeizes waren, nicht mehr zu führen. Seit fast einem
Vierteljahrhundert bildet Deutschland jährlich 150000 Soldaten aus, so daß
es heute über drei bis vier Millionen Mann zwischen 20 und 45 Jahren,
die alle im Dienst ausgebildet sind, verfügen kann. Für diese große Masse
von Leuten besitzen wir nicht nur die notwendigen Waffen und Ausrüstungs-
gegenstände, sondern sogar die Offiziere und Unteroffiziere, um sie in den
Kampf zu führen. Unsere Kaders sind vollständig — ein Vorteil, dessen sich,
was Offiziere und Unteroffiziere anlangt, keine andere Nation rühmen kann.
Diese Millionen von Männern eilen ohne Ausnahme zu den Fahnen
und ergreifen die Waffen, sobald ein ernsthafter Krieg die nationale Un-
abhängigkeit und den Bestand des Reiches bedroht. Aber dieser große Kriegs-
apparat ist zu gewaltig, um selbst in unserem vom monarchischen Gefühl
erfüllten Lande willkürlich durch den bloßen Willen des Königs in Be-
wegung gesetzt zu werden: es würde vielmehr der Uebereinstimmung der
Fürsten und Völker dieses Reiches in dem Glauben bedürfen, daß das
Vaterland, seine Unabhängigkeit und seine neugeschaffene Einheit in Gefahr
schwebt, um eine so große Zahl von Leuten ohne Gefahr zur Aushebung
zu bringen. Daraus folgt, daß unser militärischer Apparat in erster Linie
defensiver Natur und nur bestimmt ist, in Bewegung gesetzt zu werden, wenn
die Nation die Ueberzeugung gewonnen hat, daß es sich um die Abwehr
eines Angriffs handelt. Deutschland wird daher seiner Organisation nach
kaum einen anderen als einen Defensivkrieg führen. Wendet man das Vor-
stehende auf einen konkreten Fall an, so ergibt sich aus der Lage der Dinge
in Deutschland, daß die Reichsregierung gegenüber dem Volke die Ver-
antwortung für einen Krieg nicht übernehmen könnte, in welchem andere
als deutsche Interessen, z. B. orientalische Interessen, auf dem Spiel ständen.
Der Sultan ist unser Freund und wir haben alles Wohlwollen für ihn.
Aber von hier bis dahin, sich für ihn zu schlagen, ist ein weites Stück
Wegs, den zu überschreiten wir dem deutschen Volke nicht zumuten können.
Durch vorstehende Erklärungen will ich nicht die Annahme hervor-
rufen, als ob nur ein unmittelbarer Angriff auf unsere Grenzen den Ruf
zu den Waffen in Deutschland rechtfertigen würde. Das Deutsche Reich hat
drei Großmächte zu Nachbarn und offene Grenzen. Es darf daher die
Frage der Koalitionen nicht aus dem Auge lassen, die sich gegen dasselbe
bilden können. Nehmen wir an, daß Oesterreich besiegt, geschwächt oder