Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

4. Verschiedenes. 815 
uns feindlich gesinnt wäre, so würden wir auf dem europäischen Kontinent 
isoliert dastehen in Gegenwart von Rußland und Frankreich und angesichts 
der Möglichkeit einer Koalition dieser beiden Mächte. Unser Interesse ge- 
bietet uns, und sei es mit der Waffe, zu verhindern, daß eine derartige 
Lage der Dinge eintritt. Die Existenz Oesterreichs als einer starken und 
unabhängigen Großmacht ist für Deutschland eine Notwendigkeit, an der 
die persönlichen Sympathien des Herrschers nichts zu ändern vermögen. 
Oesterreich, ebenso wie Deutschland und das heutige England, gehört zu 
der Zahl der zufriedenen, „saturierten", um mit dem verstorbenen Fürsten 
Metternich zu sprechen, und folglich friedliebenden und erhaltenden Mächte. 
Oesterreich und England haben in aufrichtiger Weise den status quo des 
Deutschen Reiches anerkannt und haben kein Interesse, dasselbe geschwächt 
zu sehen. Frankreich und Rußland dagegen scheinen uns zu bedrohen: 
Frankreich, indem es den Traditionen der letzten Jahrhunderte treu bleibt, 
wo es sich als den beständigen Feind seiner Nachbarn erwiesen hat, und 
infolge des französischen Nationalcharakters;: Rußland, indem es heute 
Europa gegenüber die für den europäischen Frieden beunruhigende Haltung 
einnimmt, welche Frankreich unter den Regierungen Ludwigs XIV. und 
Napoleons IJ. kennzeichnete. Es ist auf der einen Seite der slawische Ehr- 
geiz, der die Verantwortung für diesen Zustand der Dinge trägt; anderer- 
seits muß man die Gründe für die herausfordernde Haltung Rußlands 
und seiner Armeen in den innerpolitischen Fragen suchen: die russische 
Umsturzpartei erhofft von einem auswärtigen Kriege die Befreiung von 
der Monarchie: die Monarchisten, im Gegensatz, erwarten von demselben 
Kriege das Ende der Revolution. Man muß auch das Bedürfnis in Be- 
tracht ziehen, eine müßige und zahlreiche Armee zu beschäftigen, den Ehr- 
geiz ihrer Generale zu befriedigen und die Aufmerksamkeit der Liberalen, 
welche Verfassungsänderungen verlangen, auf die auswärtige Politik ab- 
zulenken. 
Angesichts dieser Sachlage müssen wir die Gefahr, unseren Frieden 
von seiten Frankreichs und Rußlands getrübt zu sehen, als eine beständige 
erachten. Unsere Politik wird daher notgedrungenerweise dahin zielen, uns 
Bündnisse zu sichern, welche sich uns, angesichts der Möglichkeit, gleichzeitig 
unsere beiden mächtigen Nachbarn bekämpfen zu müssen, darbieten. Falls 
das Bündnis mit den befreundeten, von denselben kriegerischen Nationen 
bedrohten Mächten uns im Stiche ließe, so würde unsere Lage in einem 
Kriege nach beiden Grenzen nicht eine verzweifelte sein; aber der Krieg 
gegen das vereinte Frankreich und Rußland würde, selbst angenommen, 
daß er als militärischer Erfolg ebenso ruhmvoll für uns endigen würde 
wie der siebenjährige Krieg, immerhin ein so großes Unglück für das Land 
sein, daß wir versuchen würden, ihn uns durch eine freundschaftliche Ver- 
ständigung mit Rußland zu ersparen, für den Fall, daß wir denselben ohne 
Bundesgenossen führen müßten. Solange wir aber nicht die Gewißheit 
haben, von denjenigen Mächten, deren Interessen mit den unserigen identisch 
sind, im Stiche gelassen zu werden, wird kein deutscher Kaiser eine andere 
Politik verfolgen können als diejenige, die Unabhängigkeit der befreundeten 
Mächte zu verteidigen, welche, wie wir, mit der gegenwärtigen politischen 
Lage in Europa zufrieden und bereit sind, ohne Zaudern und ohne Schwäche 
zu handeln, wenn ihre Unabhängigkeit bedroht wäre. Wir werden also 
einen russ. Krieg vermeiden, solange es mit unserer Ehre und unserer Sicher- 
heit vereinbar ist und solange die Unabhängigkeit Oesterreich-Ungarns, 
dessen Bestand als Großmacht für uns eine Notwendigkeit allerersten Ranges 
ist, nicht in Frage gestellt wird. Wir wünschen, daß die befreundeten Mächte, 
welche im Orient Interessen zu beschützen haben, die nicht die unserigen
	        
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