Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Vierunddreißigster Jahrgang. 1918. Zweiter Teil. (59b)

816 Auhang I. Biplemstiscte Guthüllnzen. 
sind, durch ihren Zusammenschluß und durch ihre Streitkräfte sich stark 
genug machen, um das russische Schwert in der Scheide zu halten oder um 
demselben Widerstand leisten zu können, falls die Umstände zu einem Bruch 
führen sollten. Solange kein deutsches Interesse dabei auf dem Spiele stände, 
würden wir neutral bleiben; aber unmöglich ist die Annahme, daß jemals 
ein deutscher Kaiser Rußland die Unterstützung seiner Waffen leihen könnte, 
um ihm zu helfen, eine derjenigen Mächte niederzuwerfen oder zu schwächen, 
auf deren Beistand wir rechnen, sei es, um einen Krieg mit Rußland zu 
verhindern, sei es, um uns zu helfen, ihm die Stirn zu bieten. Von diesem 
Gesichtspunkte aus wird die deutsche Politik immer gezwungen sein, in die 
Reihe der Kämpfenden einzutreten, wenn die Unabhängigkeit Oesterreich- 
Ungarns durch einen russischen Angriff bedroht wäre oder England oder 
Italien Gefahr liefen, durch französische Heere überflutet zu werden. Die 
deutsche Politik steuert daher gezwungenerweise einen Kurs, der ihr durch 
die politische Lage Europas vorgeschrieben ist und von dem sie weder die 
Stimmungen noch Verstimmungen eines Monarchen oder eines leitenden 
Ministers abweichen lassen könnten. 
Ich schmeichle mir der Hoffnung, daß Euer Exzellenz die Richtigkeit 
der Schlußfolgerungen des vorstehend gekennzeichneten Gedankenganges an- 
erkennen werden. Was mich betrifft, so wiederhole ich, daß ich darin in so 
zwingender Weise die Prinzipien der Politik, welche Deutschland jetzt und 
in Zukunft zu befolgen gezwungen ist, erkenne, daß selbst die wärmsten 
Sympathien für eine fremde Macht oder für irgendeine politische Partei 
niemals einem deutschen Kaiser oder seiner Regierung die Möglichkeit offen 
lassen würden, davon abzuweichen. Ich bitte usw. gez. Fürst Bismarck. 
Diesem Schreiben fügte Fürst Bismarck folgendes Handbillett in 
engl. Sprache hinzu: 
Persönlich! Berlin, 22. Nov. 1887. 
Lieber Lord Salisbury! Ich wollte den Brief nicht schließen, ohne die 
volle Zustimmung des Prinzen Wilhelm zu seinem ganzen Inhalt, den ich 
S. Königl. Hoheit vorlas, festgestellt zu haben. Der Prinz hat mich soeben 
verlassen, und um gar keinen Zweifel zu lassen, hielt ich es für gut, diese 
paar Zeilen hinzuzufügen, bevor ich aufs Land fahre. Ihr aufrichtig er- 
gebener v. Bismarck. 
Die „Disch. Allg. Ztg.“ v. 16. Febr. 1919 (Nr. 80), die dieses Schrift- 
stück sowie die Antwort Salisburys zum ersten Male veröffentlichte, be- 
merkte dazu: Der unmittelbare Anlaß dazu, daß Fürst Bismarck den Privat- 
brief an Salisbury schrieb, lag in einer Bemerkung Salisburys zu dem 
deutschen Botschafter in London, Grafen Hatzfeld, die sich auf die dem 
Prinzen Wilhelm und künftigen Kaiser nachgesagte Russenfreundschaft bezog. 
Zur Widerlegung dieses Argwohns fügte Bismarck seinen freimütigen Dar- 
legungen der von Herrscherlaunen unabhängigen Grundlinien der deutschen 
Politik das Handbillett hinzu. 
Die Antwort Salisburys lautet in deutscher Uebersetzung: 
Persönlich und streng vertraulich! London, 30. Nov. 1887. 
Mein Herr! Ich habe die Ehre, den Empfang des Briefes zu be- 
stätigen, den Ew. Durchlaucht mir am 22. Nov. gütigst geschrieben haben. 
Ich bin sehr dankbar für das rückhaltlose Vertrauen, von dem dieser Brief 
eingegeben ist, ein Vertrauen, das ich von Herzen mit Ew. Durchlaucht in 
dem Glauben teile, daß es vollkommen durch die Sympathie und durch die 
enge Interessengemeinschaft zwischen unseren beiden Völkern gerechtfertigt ist. 
Lassen Sie mich daher kurz die Gründe auseinandersetzen, die mir die 
zu dem Grafen Hatzfeld geäußerten Besorgnisse einflößten. Wenn das Un- 
glück eines Krieges zwischen Frankreich und Deutschland eintreten sollte,
	        
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