Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Absichten des jungen Königs. 149 
Wohl war es ein Segen für seine schwere, zum Trübsinn geneigte Natur, 
daß er in den Armen eines heiteren und hochherzigen Weibes einmal 
erwarmen und die ganze Lust des Lebens empfinden durfte; dennoch hat 
das Glück der Ehe ihn, wie so viele germanische Gemüthsmenschen, eine 
Zeit lang mehr gedrückt als gehoben. Er fand als junger Gatte an den 
unschuldigen Freuden seines Hauses volles Genügen und widmete dem 
Staate nur ehrlichen Fleiß, doch nicht jene Hingebung des ganzen Denkens, 
die das Fürstenamt fordert; befangen in der unbewußten Selbstsucht der 
Glücklichen, trat er ungern aus der reinen Luft seines Heimwesens hinaus 
und begnügte sich, die Fäulniß, welche den Staat und die Gesellschaft 
zerfraß, von seiner persönlichen Umgebung fern zu halten, statt sie nach 
Königspflicht unbarmherzig zu bekämpfen. 
Der Kronprinz wurde von seinem freimüthigen Lehrer Sack früh auf 
den althohenzollernschen Gedanken der evangelischen Union hingewiesen, 
an eine innige und doch freie Auffassung des christlichen Glaubens ge— 
wöhnt. Er lernte durch Engel die philanthropischen Ideen des Zeitalters 
der Aufklärung, durch Suarez die Staatslehren der Juristen des All— 
gemeinen Landrechts kennen, bewährte sich in den Feldzügen am Rhein 
und in Polen wie in den Friedensübungen als ein tapferer sachkundiger 
Offizier. Aber — wie oft hat er es selbst beklagt — allen Staatsgeschäften 
hielt man ihn fern. Als der Siebenundzwanzigjährige die Herrschaft an— 
trat, stand er in einer fremden Welt, selber voll tiefer Ehrfurcht vor den 
Werken seines Großoheims, umgeben von alten eigenrichtigen Herren, die 
dem Schüchternen mit dem ganzen Dünkel fridericianischer Allwissenheit 
begegneten. Nichts lag ihm ferner als eine phantastische Ueberschätzung 
der königlichen Würde; wie der Name Staat aus den Gesetzen Friedrich's II. 
allmählich in den Sprachgebrauch des Volks hinübergedrungen war, so 
verstand es sich auch längst von selbst, daß jeder König von Preußen sein 
hohes Amt als eine schwere politische Pflicht auffaßte. Der junge König 
hatte ein warmes Herz für den geringen Mann, schlicht bürgerliche Nei— 
gungen wie sein Urgroßvater, gar keine Vorliebe für den Adel; sein Wunsch 
war, die von seinen Vorfahren seit hundert Jahren schrittweis vorbereitete 
Befreiung des Landvolks zu vollenden. In demselben Sinne wie der 
erste Friedrich Wilhelm konnte er sagen: „ich denke wie ein Republikaner.“ 
Nicht als ob ihn die Ideen der französischen Revolution bezaubert hätten; 
das blutige Schauspiel der gewaltsamen Volkserhebung blieb seiner Fried— 
fertigkeit und seinem Rechtssinne gleich widerwärtig. Doch sein natür— 
liches Billigkeitsgefühl, die Ueberlieferungen seines Hauses und die in 
Suarez's Schule aufgenommenen politischen Gedanken drängten ihn auf 
die Bahn der socialen Reformen. Menschenfreundlicher Sinn machte ihn 
zum Freihändler, zum Gegner jener Gesetze, welche den kleinen Leuten 
die Lebensbedürfnisse vertheuerten oder die Verwerthung der Arbeitskraft 
erschwerten. Sein gesunder Verstand entdeckte bald fast alle die einzelnen
	        
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