Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Goethe nach der italienischen Reise. 199 
weit diese Literatur volksthümlich sein konnte; durch die mächtige Rhetorik 
seiner Jungfrau von Orleans wurden sogar die Höfe von Berlin und 
Dresden aus ihrer gründlichen Prosa aufgeschüttelt. Goethe hatte schon 
als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münsters sich begeistert 
und damals schon, zuerst unter den Zeitgenossen, einen Einblick gewonnen 
in das Leben unseres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den 
Reichthum seiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller 
dagegen war ein durchaus moderner Mensch, modern in Empfindung 
und Rede, ohne Sinn für das deutsche Alterthum und ebendeshalb po- 
pulärer; denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergessen hatte, verlangte 
nach dem Neuen und Blanken. 
In Italien verbrachte Goethe seine zweite Jugendzeit, er lebte sich 
ein in die classische Formenwelt und ward im Alterthum heimisch wie 
Niemand seit Winckelmann. Nach den neuen Anschauungen, die ihm dort 
zuströmten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren still empfangenen 
Werke und überraschte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche 
mit der Anschaulichkeit und der Lebenswärme seiner Jugendschriften eine 
den Deutschen noch ganz unbekannte stilvolle Hoheit und getragene Würde 
verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Masse der Leser seinem 
neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte sinnvolle Schön- 
heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenschaft des Tasso recht 
verstehen wollte. Die Deutschen verloren den Dichter ganz aus den 
Augen, da er jetzt „in seiner Dachshöhle"“ sich vergrub und durch jahre- 
lange Forschung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er 
wagte sich an das titanische Unternehmen, schrittweis aufsteigend von der 
einfachsten zu der höchsten Organisation die ganze Natur zu verstehen 
und verstehend mit ihr zu leben. Und dies wissenschaftliche Erkennen, 
„nie geschlossen, oft gegründet,“ war zugleich künstlerische Anschauung; er 
gab sich der Natur hin mit allen Kräften seiner Seele, so innig, so liebe- 
voll, daß er seine geologischen Studien mit Recht „meine Erdfreundschaft" 
nennen durfte. Die Forschung beirrte ihn nicht, sie bestärkte ihn in der 
naiven Weltanschauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der 
Welt im Herzen des Menschen sucht. Das All belebte sich vor seinen 
ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige sich in allen 
Wesen fort regt, hielt er nur um so freudiger den Glauben fest an das 
selbständige Gewissen, die Sonne unseres Sittentages. Seit er den Gott 
ahnte, der die Welt im Innersten bewegt, erschien die heitere Weltfreudig- 
keit seines Dichtergeistes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen 
Andacht: „strömt Lebenslust aus allen Dingen, dem kleinsten wie dem 
größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen ist ew'ge Ruh in Gott 
dem Herrn!"“ 
Unterdessen hatte Schiller, wie er selbst gesteht, im Poetischen einen 
völlig neuen Menschen angezogen und durch ernste philosophische Forschung
	        
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