Goethe nach der italienischen Reise. 199
weit diese Literatur volksthümlich sein konnte; durch die mächtige Rhetorik
seiner Jungfrau von Orleans wurden sogar die Höfe von Berlin und
Dresden aus ihrer gründlichen Prosa aufgeschüttelt. Goethe hatte schon
als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münsters sich begeistert
und damals schon, zuerst unter den Zeitgenossen, einen Einblick gewonnen
in das Leben unseres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den
Reichthum seiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller
dagegen war ein durchaus moderner Mensch, modern in Empfindung
und Rede, ohne Sinn für das deutsche Alterthum und ebendeshalb po-
pulärer; denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergessen hatte, verlangte
nach dem Neuen und Blanken.
In Italien verbrachte Goethe seine zweite Jugendzeit, er lebte sich
ein in die classische Formenwelt und ward im Alterthum heimisch wie
Niemand seit Winckelmann. Nach den neuen Anschauungen, die ihm dort
zuströmten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren still empfangenen
Werke und überraschte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche
mit der Anschaulichkeit und der Lebenswärme seiner Jugendschriften eine
den Deutschen noch ganz unbekannte stilvolle Hoheit und getragene Würde
verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Masse der Leser seinem
neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte sinnvolle Schön-
heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenschaft des Tasso recht
verstehen wollte. Die Deutschen verloren den Dichter ganz aus den
Augen, da er jetzt „in seiner Dachshöhle"“ sich vergrub und durch jahre-
lange Forschung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er
wagte sich an das titanische Unternehmen, schrittweis aufsteigend von der
einfachsten zu der höchsten Organisation die ganze Natur zu verstehen
und verstehend mit ihr zu leben. Und dies wissenschaftliche Erkennen,
„nie geschlossen, oft gegründet,“ war zugleich künstlerische Anschauung; er
gab sich der Natur hin mit allen Kräften seiner Seele, so innig, so liebe-
voll, daß er seine geologischen Studien mit Recht „meine Erdfreundschaft"
nennen durfte. Die Forschung beirrte ihn nicht, sie bestärkte ihn in der
naiven Weltanschauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der
Welt im Herzen des Menschen sucht. Das All belebte sich vor seinen
ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige sich in allen
Wesen fort regt, hielt er nur um so freudiger den Glauben fest an das
selbständige Gewissen, die Sonne unseres Sittentages. Seit er den Gott
ahnte, der die Welt im Innersten bewegt, erschien die heitere Weltfreudig-
keit seines Dichtergeistes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen
Andacht: „strömt Lebenslust aus allen Dingen, dem kleinsten wie dem
größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen ist ew'ge Ruh in Gott
dem Herrn!"“
Unterdessen hatte Schiller, wie er selbst gesteht, im Poetischen einen
völlig neuen Menschen angezogen und durch ernste philosophische Forschung