Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Romantische Weltanschauung. 207 
nie verleugnet hatte. Die Inspiration der „intellectuellen Anschauung“, 
die im Bereiche der Erfahrungswissenschaften schlechterdings nur zu ge— 
nialen Hypothesen anregen kann und sich immer erst durch empirische 
Beweise rechtfertigen muß, sollte ihm die Beobachtung und Vergleichung 
ersetzen. Durch willkürliches Construiren, aus der Phantasie heraus, 
wähnte er der Natur die Geheimnisse zu entreißen, welche sie allein dem 
liebevollen, entsagenden Fleiße enthüllt. Das nüchterne Forschen über— 
ließ man verächtlich den geistlosen Handwerkern; die gute Gesellschaft 
schwärmte für die Naturphilosophie oder lernte befriedigt aus Gall's 
Schädellehre, wie leicht und spielend der geniale Mensch die dunkelsten 
Probleme der Psychologie und Naturwissenschaft bewältigen könne. Alle 
Schäden der Ueberbildung begannen sich zu zeigen; der geistige Hochmuth 
stellte launisch die welterhaltenden Gesetze des sittlichen Lebens in Frage, 
schaute mit geringschätzigem Lächeln auf den moralischen Pedanten Schiller 
herunter. Schwächere Naturen verfielen einer übergeistreichen Matther— 
zigkeit, lernten alle Dinge von allen Seiten zu betrachten und verloren 
inmitten der entgegengesetzten Gesichtspunkte, welche der Gedankenreichthum 
der Zeit einem Jeden darbot, die Kraft zu selbständigem Denken und 
Wollen; wer eine historische Erscheinung theoretisch erklürt und verstanden 
hatte, wähnte sie auch gerechtfertigt zu haben. 
Gleichwohl ist die romantische Dichtung für unser Leben überaus 
fruchtbar geworden, weniger durch ihre eigenen Kunstwerke, als durch die 
Anregung, die sie der Wissenschaft gab, durch den neuen weiten Gesichts— 
kreis, den sie dem gesammten Fühlen und Denken der Nation erschloß. 
Sie verfeinerte und vertiefte das Naturgefühl, weckte das Verständniß 
für die Seele der Landschaft, für den ahnungsvollen Zauber der Wald— 
einsamkeit, der Felsenwildniß, der moosbedeckten Brunnen. Das acht— 
zehnte Jahrhundert hatte sich, gleich den Alten, in der reichangebauten 
fruchtbaren Ebene wohl gefühlt, die neue Zeit suchte nach den roman— 
tischen Reizen der Natur; die Jugend lernte die unschuldigen Freuden 
der frischen, freien Wanderlust wieder schätzen, das Volk bis tief in die 
Mittelstände herab ward nach und nach um eine Fülle neuer Anschau— 
ungen reicher. Die Welt des Märchenhaften, Geheimnißvollen, Dunkel— 
klaren wurde jetzt erst der deutschen Dichtung ganz erschlossen. Ihre 
Traumgestalten traten nicht so rund, klar und fertig heraus wie die 
Gebilde der classischen Kunst; doch sie hoben sich ab von einem tiefen 
Hintergrunde und schienen in's Unendliche hinauszudeuten, und über 
ihnen lag der Dämmerschein der „mondbeglänzten Zaubernacht, die den 
Sinn gefangen hält“. Uralte, längst verschollene Empfindungen des 
germanischen Volksgemüths wurden wieder lebendig. 
Die Romantiker fühlten, daß die classischen Ideale das innerste Leben 
unseres Volkes nicht vollständig wiedergaben; sie suchten nach neuen Stoffen, 
durchstreiften als wagelustige Conquistadoren die weite Welt, bis zu der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.