210 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
berauschten oder nach einer neuen ästhetischen Weltreligion suchten, stand der
junge Schleiermacher fest auf dem Boden des Protestantismus. Sein
Geist war zu sehr auf die Welt des Handelns gerichtet, um, gleich den
weimarischen Poeten, die Wirklichkeit über dem heiteren Spiele der Kunst
zu vergessen, und doch zu künstlerisch um bei der unerbittlichen allge-
meinen Regel des kategorischen Imperativs sich zu beruhigen. Die Per-
sönlichkeit, die ihre Eigenart frei entfaltet und zugleich den großen objectiven
Ordnungen des Staates und der Gesellschaft sich mit Bewußtsein einfügt,
war ihm die individuelle Form des allgemeinen Sittengesetzes. In seinen
Reden über die Religion hielt er ihren gebildeten Verächtern die Mah-
nung entgegen: „die Religion haßt die Einsamkeit,“ und zeigte, wie sie
ihre Wurzeln im Gefühle habe, wie sie ein ursprüngliches, allem Handeln
und aller Lehre vorangehendes Leben sei, eine sittliche Macht, wirksam in
allen Menschen; nur durch sie könne der Mensch mitten in der Endlich-
keit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in jedem Augenblicke.
Und mit einem patriotischen Stolze, der schon die Stimmungen späterer
Jahre vorausnahm, wies er auf die unbezwingliche Macht der Heimath
des Protestantismus: „denn Deutschland ist immer noch da, und seine
unsichtbare Kraft ist ungeschwächt.“ Wie er die philosophische Selbstgenüg-
samkeit zum religiösen Gemeinleben heranrief, so wollte er sie auch die
Würde des Staates erkennen lehren: der Staat ist das schönste Kunstwerk
der Menschheit, giebt dem Einzelnen erst den höchsten Grad des Lebens,
sein Zwang darf also nicht als lästige Beschränkung empfunden werden.
Zu verwandten Anschauungen gelangte auch jener gestrenge steif-
nackige Denker, dem Schleiermacher's Gemüthsreichthum als weibische
Schwäche erschien; denn nur unter beständigen Kämpfen trotziger, eigen-
richtiger Persönlichkeiten vollendete sich die literarische Bewegung, die uns
Rückschauenden heute so einfach, so nothwendig erscheint. Mit Fichte's
Philosophie sprach der transcendentale Idealismus sein letztes Wort. Er
bestritt der Welt der Erfahrung kurzweg jede Realität: nur weil das sitt-
liche Handeln eine Bühne fordere, nur deshalb sei der Geist gezwungen,
eine Außenwelt aus sich herauszuschauen und als wirklich anzunehmen.
Auch in seinen politischen Schriften schien der verwegene Mann alle
Schranken der historischen Wirklichkeit zu mißachten. Das Ideal des Zeit-
alters, den ewigen Frieden, wollte er verwirklichen durch die völlige Auf-
hebung des Welthandels, dergestalt daß die „geschlossenen Handelsstaaten“
nur noch durch den Austausch wissenschaftlicher Gedanken mit einander
verkehrten; und in seinen Reden über die Grundzüge des gegenwärtigen
Zeitalters rühmte er geradezu als das Vorrecht des sonnenverwandten
Geistes, daß er sich von der Scholle löse und als ein Weltbürger sein
Vaterland da finde, „wo Licht ist und Recht“. Und doch redete schon
aus diesen Vorträgen ein thatenfroher Sinn, der über die Welt der
Theorie hinausstrebte. Jeder Satz predigte den strengen Dienst der Pflicht;