Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Abfall der Polen. 257 
blieb er ihnen stets ein gestrenger Herr, gönnte ihnen keine Vergrößerung, 
nahm sie nicht in seine Verwandtschaft auf, während er dem Dresdner 
und den süddeutschen Höfen nach seiner brutalen Art einiges Wohlwollen 
erwies. Darum blieb auch das patriarchalische Völkchen der norddeutschen 
Kleinstaaten ganz unberührt von dem Napoleonscultus, der in Kursachsen 
und Süddeutschland so viele Anhänger fand; der Bauersmann in Thü— 
ringen und Mecklenburg fühlte sich persönlich gekränkt, wenn er seinen ange— 
stammten Herzog in demüthiger Haltung neben den fremden Gewalthabern 
sah. Genug, noch während des Krieges wurde Preußen, wie im Sommer 
vorher Oesterreich, aus Deutschland hinausgestoßen, die Gesammtheit der 
Mittel- und Kleinstaaten dem Protector des Rheinbundes unterworfen. 
Derweil Preußens deutsche Bundesgenossen abfielen, ereilte den un— 
glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Diese 
slavischen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick— 
lung der Monarchie in's Stocken gebracht hatten, erwiesen sich im Augen— 
blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Besitz. Vier Wochen nach der Jenaer 
Schlacht erhob Dombrowsky in Polen das Banner der Empörung, der 
gesammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er— 
griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an 
Preußen gelangt waren. Der König konnte die Bürde seines hohen Amtes 
nicht ertragen, wenn er der Liebe und Treue seiner Unterthanen nicht sicher 
war; er ahnte, daß sittliche Bande den Staat zusammenhalten. Der 
Anblick des großen Abfalls erfüllte sein Gemüth mit tiefer Erbitterung, 
doch erkannte er nüchtern, wie unhemmbar diese nationale Bewegung 
dahinfluthete, und ließ sich nicht ein auf die phantastischen Vorschläge 
des Fürsten Radziwill, der von einer royalistischen Gegenbewegung träumte. 
Dem Imperator kam die Erhebung des alten Bundesgenossen Frankreichs. 
hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den Aufruhr, ließ Waffen an die 
Empörer vertheilen, die Polen in den preußischen Regimentern zur De- 
sertion verleiten, rühmte in seinen Bulletins, wie dies Volk sich in wahr- 
haft interessanten Farben zeige. Dabei hütete er sich wohl den Polen 
eine feste Zusage zu geben; kalt und sicher durchschaute er diese sarmatischen 
Junker, ihre brausende Tapferkeit, aber auch ihren Leichtsinn, ihre Selbst- 
sucht, ihre politische Unfähigkeit. Das Land war ihm werthvoll als ein 
Lager streitbarer Hilfstruppen und als ein Mittel um die längst geplante 
Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je nach Umständen behielt er sich 
vor, den Polen wieder den Schein politischer Selbständigkeit zu gewähren. 
Der polnische Aufstand nöthigte den Czaren, die Unterstützung, die 
er seinem preußischen Freunde zugesagt, jetzt endlich zu leisten. Aber nicht 
als ein Hilfsheer, wie man im Herbst angenommen, erschien die russische 
Armee auf preußischem Boden; sie hatte die Hauptlast des Kampfes zu 
tragen, und schwer rächte sich jetzt der leichtsinnig begonnene Türkenkrieg, 
denn nur ein Theil der russischen Streitkräfte war für Preußen verfügbar. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 17
	        
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