Abfall der Polen. 257
blieb er ihnen stets ein gestrenger Herr, gönnte ihnen keine Vergrößerung,
nahm sie nicht in seine Verwandtschaft auf, während er dem Dresdner
und den süddeutschen Höfen nach seiner brutalen Art einiges Wohlwollen
erwies. Darum blieb auch das patriarchalische Völkchen der norddeutschen
Kleinstaaten ganz unberührt von dem Napoleonscultus, der in Kursachsen
und Süddeutschland so viele Anhänger fand; der Bauersmann in Thü—
ringen und Mecklenburg fühlte sich persönlich gekränkt, wenn er seinen ange—
stammten Herzog in demüthiger Haltung neben den fremden Gewalthabern
sah. Genug, noch während des Krieges wurde Preußen, wie im Sommer
vorher Oesterreich, aus Deutschland hinausgestoßen, die Gesammtheit der
Mittel- und Kleinstaaten dem Protector des Rheinbundes unterworfen.
Derweil Preußens deutsche Bundesgenossen abfielen, ereilte den un—
glücklichen Staat zugleich die Vergeltung für die Theilung Polens. Diese
slavischen Gebiete, die während des letzten Jahrzehnts die innere Entwick—
lung der Monarchie in's Stocken gebracht hatten, erwiesen sich im Augen—
blicke der Gefahr als ein unhaltbarer Besitz. Vier Wochen nach der Jenaer
Schlacht erhob Dombrowsky in Polen das Banner der Empörung, der
gesammte Adel eilte den Fahnen des weißen Adlers zu, und bald er—
griff der Aufruhr alle Lande, die durch die beiden letzten Theilungen an
Preußen gelangt waren. Der König konnte die Bürde seines hohen Amtes
nicht ertragen, wenn er der Liebe und Treue seiner Unterthanen nicht sicher
war; er ahnte, daß sittliche Bande den Staat zusammenhalten. Der
Anblick des großen Abfalls erfüllte sein Gemüth mit tiefer Erbitterung,
doch erkannte er nüchtern, wie unhemmbar diese nationale Bewegung
dahinfluthete, und ließ sich nicht ein auf die phantastischen Vorschläge
des Fürsten Radziwill, der von einer royalistischen Gegenbewegung träumte.
Dem Imperator kam die Erhebung des alten Bundesgenossen Frankreichs.
hochwillkommen; eifrig ermuthigte er den Aufruhr, ließ Waffen an die
Empörer vertheilen, die Polen in den preußischen Regimentern zur De-
sertion verleiten, rühmte in seinen Bulletins, wie dies Volk sich in wahr-
haft interessanten Farben zeige. Dabei hütete er sich wohl den Polen
eine feste Zusage zu geben; kalt und sicher durchschaute er diese sarmatischen
Junker, ihre brausende Tapferkeit, aber auch ihren Leichtsinn, ihre Selbst-
sucht, ihre politische Unfähigkeit. Das Land war ihm werthvoll als ein
Lager streitbarer Hilfstruppen und als ein Mittel um die längst geplante
Demüthigung Rußlands vorzubereiten; je nach Umständen behielt er sich
vor, den Polen wieder den Schein politischer Selbständigkeit zu gewähren.
Der polnische Aufstand nöthigte den Czaren, die Unterstützung, die
er seinem preußischen Freunde zugesagt, jetzt endlich zu leisten. Aber nicht
als ein Hilfsheer, wie man im Herbst angenommen, erschien die russische
Armee auf preußischem Boden; sie hatte die Hauptlast des Kampfes zu
tragen, und schwer rächte sich jetzt der leichtsinnig begonnene Türkenkrieg,
denn nur ein Theil der russischen Streitkräfte war für Preußen verfügbar.
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 17