Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

262 I. 2. Revolution und Fremdherrschaft. 
Spiel zu setzen, blieb vier Monate lang fast unbeweglich. Währenddem 
entfaltete Napoleon im Winterquartier zu Osterode eine fieberhafte Thätig- 
keit, verstärkte sein Heer, ließ die Conscription von 1808 zum Voraus 
ausheben, die Rheinbundfürsten eine Reserve-Armee bilden, leitete aus 
der Ferne die Vertheidigung von Konstantinopel gegen die englische Flotte 
und betrieb zugleich die Belagerung von Danzig. Da dieser Platz ihm 
als Stützpunkt für die Fortsetzung des Feldzugs dienen sollte, so entschloß 
er sich, zum zweiten und letzten male in seinem Feldherrnleben, zu der 
langsamen Arbeit des Festungskrieges, die er seit den Kämpfen um Mantua 
immer verschmäht hatte. Die Festung wurde durch General Kalckreuth 
tapfer vertheidigt; bei den Entsatzversuchen that sich schon ein großer 
Name des neuen deutschen Heeres, Oberst Bülow, glänzend hervor. Aber 
da Bennigsen zur Befreiung des wichtigen Platzes nichts Entscheidendes 
wagte, so mußte Kalckreuth am 27. Mai ehrenvoll capituliren. 
Glücklicher behauptete sich der grimmige alte General Courbiere in 
Graudenz. Auch im schlesischen Grenzgebirge führte Graf Götzen, ein 
Feuergeist in schwachem Körper, mit umsichtiger Kühnheit den kleinen Krieg. 
Doch alle anderen Thaten des verbündeten Heeres überstrahlte die hel- 
denhafte Vertheidigung der kleinen hinterpommerschen Feste Colberg. Hier 
in der treuen Stadt, die schon im siebenjährigen Kriege dreimal dem 
überlegenen Feinde widerstanden hatte, stand die Wiege des neuen preußi- 
schen Waffenruhms; hier erwachte zuerst jener heilige Völkerzorn, der 
nach sechs argen Jahren die Befreiung der Welt erzwingen sollte; hier 
trat jener Mann auf die Bühne der Geschichte, der herrlich wie kein 
Zweiter den echten preußischen Soldatengeist, schneidige Verwegenheit und 
helle Einsicht, in sich verkörperte. Zwanzig Jahre der Langeweile im 
subalternen Garnisonleben hatten Gneisenau's jugendliche Frische nicht ge- 
brochen. Gütig und wahrhaftig, ganz frei von Selbstsucht, im Innersten 
bescheiden trotz des scharfen Spottes, womit er die Dummheit und Ge- 
meinheit zu treffen wußte, stand er auf den freien Höhen der Bildung. 
Sein Blick umfaßte den ganzen Umkreis der Völkergeschicke einer unge- 
heuren Zeit, doch der Reichthum der Gedanken beirrte ihn nicht in dem 
frohen Glauben, daß eines starken Volkes Kräfte unerschöpflich seien, 
störte ihm nicht die tollkühne Lust am Wagen und am Schlagen. In 
dem Feuer seiner Blicke, in der heiteren Majestät seiner Erscheinung lag 
etwas von jenem Zauber, der einst den jungen König Friedrich um- 
strahlte. Wie wurde in der bedrängten Festung plötzlich Alles anders, 
als der unbekannte Major unter die Hoffnungslosen trat, aus dem bunt- 
scheckigen Haufen von Versprengten, den er als Garnison vorfand, binnen 
Kurzem eine treffliche, siegesgewisse Truppe bildete und die tapfere Bür- 
gerschaft, den wagehalsigen alten Seemann Nettelbeck voran, zu den Ar- 
beiten der Vertheidigung mit heranzog. „Ich nahm alles auf meine 
Hörner,“ so erzählt er selbst, „verfuhr als ein unabhängiger Fürst, manch-
	        
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