270 I. 3. Preußens Erhebung.
Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab die kleinliche Vor-
liebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wissenschaft erkannte, daß sie
des Vaterlandes bedurfte um menschlich wahr zu sein. Das alte harte kriege-
rische Preußenthum und die Gedankenfülle der modernen deutschen Bildung
fanden sich endlich zusammen um nicht wieder von einander zu lassen.
Diese Versöhnung zwischen den beiden schöpferischen Mächten unserer neuen
Geschichte giebt den schweren Jahren, welche dem Tilsiter Frieden folgten,
ihre historische Größe. In dieser Zeit des Leidens und der Selbstbesin-
nung haben sich alle die politischen Ideale zuerst gebildet, an deren Ver-
wirklichung die deutsche Nation bis zum heutigen Tage arbeitet.
Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grausamer gehaust als in
Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt
erschütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenschaftlicher empfunden als
unter den deutschen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo-
leonischen Weltreichs erhob sich der Gedanke der Staatenfreiheit, derselbe
Gedanke, für den einst der Neugründer des preußischen Staates gegen
den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitischen Lehren der
bewaffneten Revolution trat die nationale Gesinnung, die Begeisterung
für Vaterland, Volksthum und heimische Eigenart entgegen. Im Kampfe
wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine
neue lebendige Anschauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der
persönlichen Kraft den sittlichen Halt der Nationen sah. Die großen
Gegensätze, die hier auf einander stießen, spiegelten sich getreulich wieder
in den Personen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der sich
vermaß, er selber sei das Schicksal, aus ihm rede und wirke die Natur
der Dinge — der Uebermächtige, der mit der Wucht seines herrischen
Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge
von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geschäftsmännern, aber fast
kein einziger aufrechter Charakter, fast Keiner, dessen inneres Leben sich
über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher
Menschen, scharf ausgeprägte, eigensinnige Naturen, jeder eine kleine Welt
für sich selber voll deutschen Trotzes und deutscher Tadelsucht, jeder eines
Biographen würdig, zu selbständig und gedankenreich um kurzweg zu ge-
horchen, doch allesammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit
und Ehre ihres geschändeten Vaterlandes wieder aufzurichten.
Einer aber stand in diesem Kreise nicht als Herrscher, doch als der
Erste unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit-
alters der Reformen. Das Schloß seiner Ahnen lag zu Nassan, mitten
im buntesten Ländergemenge der Kleinstaaterei; von der Lahnbrücke im
nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutschen Fürsten
und Herren zugleich hineinschauen. Dort wuchs er auf, in der freien
Luft, unter der strengen Zucht eines stolzen, frommen, ehrenfesten alt-
ritterlichen Hauses, das sich allen Fürsten des Reiches gleich dünkte.