Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

270 I. 3. Preußens Erhebung. 
Lebens zu opferfreudiger Thatkraft. Der Staat gab die kleinliche Vor- 
liebe für das handgreiflich Nützliche auf; die Wissenschaft erkannte, daß sie 
des Vaterlandes bedurfte um menschlich wahr zu sein. Das alte harte kriege- 
rische Preußenthum und die Gedankenfülle der modernen deutschen Bildung 
fanden sich endlich zusammen um nicht wieder von einander zu lassen. 
Diese Versöhnung zwischen den beiden schöpferischen Mächten unserer neuen 
Geschichte giebt den schweren Jahren, welche dem Tilsiter Frieden folgten, 
ihre historische Größe. In dieser Zeit des Leidens und der Selbstbesin- 
nung haben sich alle die politischen Ideale zuerst gebildet, an deren Ver- 
wirklichung die deutsche Nation bis zum heutigen Tage arbeitet. 
Nirgends hatte die Willkür des Eroberers grausamer gehaust als in 
Preußen; darum ward auch der große Sinn des Kampfes, der die Welt 
erschütterte, nirgends tiefer, bewußter, leidenschaftlicher empfunden als 
unter den deutschen Patrioten. Gegen die abenteuerlichen Pläne des napo- 
leonischen Weltreichs erhob sich der Gedanke der Staatenfreiheit, derselbe 
Gedanke, für den einst der Neugründer des preußischen Staates gegen 
den vierzehnten Ludwig gefochten hatte. Den kosmopolitischen Lehren der 
bewaffneten Revolution trat die nationale Gesinnung, die Begeisterung 
für Vaterland, Volksthum und heimische Eigenart entgegen. Im Kampfe 
wider die erdrückende Staatsallmacht des Bonapartismus erwuchs eine 
neue lebendige Anschauung vom Staate, die in der freien Entfaltung der 
persönlichen Kraft den sittlichen Halt der Nationen sah. Die großen 
Gegensätze, die hier auf einander stießen, spiegelten sich getreulich wieder 
in den Personen der leitenden Männer. Dort jener eine Mann, der sich 
vermaß, er selber sei das Schicksal, aus ihm rede und wirke die Natur 
der Dinge — der Uebermächtige, der mit der Wucht seines herrischen 
Genius jeden anderen Willen erdrückte; tief unter ihm ein Dienergefolge 
von tapferen Landsknechten und brauchbaren Geschäftsmännern, aber fast 
kein einziger aufrechter Charakter, fast Keiner, dessen inneres Leben sich 
über das platt Alltägliche erhob. Hier eine lange Schaar ungewöhnlicher 
Menschen, scharf ausgeprägte, eigensinnige Naturen, jeder eine kleine Welt 
für sich selber voll deutschen Trotzes und deutscher Tadelsucht, jeder eines 
Biographen würdig, zu selbständig und gedankenreich um kurzweg zu ge- 
horchen, doch allesammt einig in dem glühenden Verlangen, die Freiheit 
und Ehre ihres geschändeten Vaterlandes wieder aufzurichten. 
Einer aber stand in diesem Kreise nicht als Herrscher, doch als der 
Erste unter Gleichen: der Freiherr vom Stein, der Bahnbrecher des Zeit- 
alters der Reformen. Das Schloß seiner Ahnen lag zu Nassan, mitten 
im buntesten Ländergemenge der Kleinstaaterei; von der Lahnbrücke im 
nahen Ems konnte der Knabe in die Gebiete von acht deutschen Fürsten 
und Herren zugleich hineinschauen. Dort wuchs er auf, in der freien 
Luft, unter der strengen Zucht eines stolzen, frommen, ehrenfesten alt- 
ritterlichen Hauses, das sich allen Fürsten des Reiches gleich dünkte.
	        
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