272 I. 3. Preußens Erhebung.
züge eines dauerhaften Neubaues der Staatengesellschaft. Das unnatür-
liche Uebergewicht Frankreichs — so lautete sein Urtheil — steht und fällt
mit der Schwäche Deutschlands und Italiens; ein neues Gleichgewicht
der Mächte kann nur erstehen, wenn jedes der beiden großen Völker
Mitteleuropas zu einem kräftigen Staate vereinigt wird. Stein war der
erste Staatsmann, der die treibende Kraft des neuen Jahrhunderts, den
Drang nach nationaler Staatenbildung ahnend erkannte; erst zwei Men-
schenalter später sollte der Gang der Geschichte die Weissagungen des
Genius rechtfertigen. Noch war sein Traum vom einigen Deutschland
mehr eine hochherzige Schwärmerei als ein klarer politischer Gedanke; er
wußte noch nicht, wie fremd Oesterreich dem modernen Leben der Nation
geworden war, wollte in den Kämpfen um Schlesien nichts sehen als
einen beklagenswerthen Bürgerkrieg.
Immerhin hatte er schon in jungen Jahren die lebendige Macht des
preußischen Staates erkannt und, weit abweichend von den Gewohnheiten
des Reichsadels, sich in den Dienst der protestantischen Großmacht begeben.
Wie ward ihm so wohl in der naturfrischen, den Körper stählenden Thätig-
keit des Bergbaus, und nachher, da er als Kammerpräsident unter den
freien Bauern und dem stolzen alteingesessenen Adel der westphälischen
Lande eine zweite Heimath fand, bei Wind und Wetter immer selbst zur
Stelle um nach dem Rechten zu sehen, herrisch durchgreifend, rastlos an-
feuernd, aber auch gütig und treuherzig, durch und durch praktisch, nicht
minder besorgt um die Kühe der kleinen Kötter wie um die Wasserwege
für die reichen Kohlenwerke — ein echter Edelmann, vornehm zugleich
und leutselig, großartig in Allem, ein kleiner König in seiner Provinz.
Den Osten der Monarchie kannte er wenig. Der Rheinfranke konnte das
landschaftliche Vorurtheil gegen die dürftigen Colonistenlande jenseits der
Elbe lang nicht überwinden; er meinte in den ernsthaften verwitterten
Zügen der brandenburgischen Bauern, die freilich die Spuren langer
Noth und Unfreiheit trugen, einen scheuen, bösen Wolfsblick zu erkennen,
und mit dem naiven Stolze des Reichsritters sah er auf das arme an-
spruchsvolle Junkerthum der Marken herunter, das doch für Deutschlands
neue Geschichte unvergleichlich mehr geleistet hatte als der gesammte Reichs-
adel. Sold zu nehmen und seinen steifen Nacken in das Joch des Dienstes
zu schmiegen fiel dem Reichsfreiherrn von Haus aus schwer. Als er dann
auf der rothen Erde die noch lebensfähigen Ueberreste altgermanischer Ge-
meindefreiheit und altständischer Institutionen kennen lernte, als er die
gemeinnützige Wirksamkeit der Landstände, der bäuerlichen Erbentage, der
Stadträthe und Kirchensynoden beobachtete und damit die formensteife
Kleinmeisterei, die allfürsorgende Zudringlichkeit des königlichen Beamten-
thums verglich, da überkam ihn eine tiefe Verachtung gegen das Nichtige
des todten Buchstabens und der Papierthätigkeit. Mit harten und oftmals
ungerechten Worten schalt er auf die besoldeten, buchgelehrten, interesse-