Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

280 I. 3. Preußens Erhebung. 
Bestrebungen des Menschengeschlechts um ihrer selbst willen beschütze und 
also durch sittliche Kräfte sich den Sieg über die feindliche Uebermacht sichere. 
Stein besaß in hohem Maße die dem Staatsmanne unentbehrliche 
Kunst die Gedanken Anderer zu benutzen. Alle die Vorschläge, die ihm 
aus den Kreisen des Beamtenthums entgegengebracht wurden, ließ er auf 
sich wirken, doch seine letzten Entschließungen faßte er stets nach eigenem 
Ermessen. Dann stellte er die leitenden Gedanken in großen Zügen fest, 
überließ die Ausarbeitung den Räthen und trat erst wieder ein, wenn es 
galt das vollendete Werk gegen Zweifel und Widerspruch durchzusetzen. 
Als er in Memel eintraf, fand er bereits einen Entwurf vor für die Auf- 
hebung der Erbunterthänigkeit in Ost= und Westpreußen. Schön, Staege- 
mann und Klewitz hatten den Plan, auf Befehl des Königs, ausgearbeitet 
und sich namentlich darauf berufen, daß in dem benachbarten Herzogthum 
Warschau die Beseitigung der Leibeigenschaft bevorstehe. Der Minister 
gab dem Gesetze sofort einen größeren Sinn, verlangte die Ausdehnung 
der Reform auf das gesammte Staatsgebiet. Seit er politisch zu denken 
vermochte hatte er die Unfreiheit des Landvolks als den Fluch unseres 
Nordostens betrachtet; jetzt schien es ihm an der Zeit, dies uralte Leiden 
endlich zu heilen, mit einem kühnen Schritte das Ziel zu erreichen, worauf 
die Gesetze der Hohenzollern seit Friedrich Wilhelm I. immer mit halbem 
Erfolge hingearbeitet hatten. Der König stimmte freudig zu; die tapfere 
Zuversicht des Ministers erweckte ihm den Muth ernstlich zu wollen was 
er sein Lebelang nur gehofft und gewünscht. So erschien denn am 9. October 
1807 das Edict über den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des 
Grundeigenthums — die Habeas Corpus-Acte Preußens, wie Schön sagte. 
In anspruchslosen Formen ward eine tiefgreifende sociale Revolution voll- 
zogen: etwa zwei Drittel der Bevölkerung des Staates gewannen die un- 
beschränkte persönliche Freiheit, am Martinitage 1810 sollte es nur noch 
freie Leute in Preußen geben. Dasselbe Gesetz vernichtete mit einem 
Schlage die ständische Ordnung des fridericianischen Staates, Der Edel- 
mann erhielt das Recht, ein Bauer zu werden und bürgerliche Gewerbe 
zu treiben — ein Recht, das zugleich als Ersatz galt für die bisherige 
Bevorzugung des Adels in der Armee. Jede Art von Grundbesitz und 
Geschäftsbetrieb war fortan jedem Preußen zugänglich. 
Aber Stein war nicht gewillt, die alten volksfreundlichen Grundsätze 
der Monarchie preiszugeben und unter dem Vorwande des freien Wett- 
bewerbs die Vernichtung des kleinen Grundbesitzes zu erlauben; ein freier 
kräftiger Bauernstand erschien ihm als die festeste Stütze des Staates, 
als der Kern der Wehrkraft. Darum wurde den Rittergutsbesitzern das 
Auskaufen der Bauergüter nur unter Beschränkungen und mit Zustimmung 
der Staatsbehörden gestattet. Und während Schön, getreu den Dogmen 
der englischen Freihandelsschule, den Untergang der alten landsässigen 
Geschlechter als eine unabänderliche wirthschaftliche Nothwendigkeit hin-
	        
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